Alle fünf Jahre
Alle fünf Jahre trafen sie sich. Die Abschlussklasse von 1986 veranstaltete in diesem Rhythmus das Klassentreffen in wechselnden Gastronomiebetrieben im südbadischen Raum.Es war für alle spannend, die ehemaligen Schulkameraden und -kameradinnen wiederzusehen. Die sichtbaren Veränderungen waren zum größten Teil natürlich und wurden von dem einen mehr, von dem anderen weniger wahrgenommen. Der eine war sehr dick geworden, die andere hatte viele weiße Haare bekommen. Viel interessanter jedoch waren die Entwicklungen, die man sich gegenseitig erzählen konnte. Ein Job im Ausland, der Bau eines Hauses, die Geburt eines Kindes, ein außergewöhnliches Hobby - die Themen gingen nie aus.
Und jedesmal hatte er nur Augen für sie. Sie, die nicht er geheiratet hatte. Sie, die er aus den Augen verloren hatte. Sie, die immer in einem geheimen Kästchen seines Herzens bei ihm war.
Nach einer liebevollen Begrüßung beobachtete er sie zunächst nur. Prägte sich wieder ihre Gesichtszüge ein, die Art, wie sie sich bewegte, wie sie sprach und vor allem - wie sie lachte! Er kannte keinen Menschen, der so strahlend und ansteckend lachen konnte.
Wie konnte er nur wieder fünf Jahre ohne ihre Gegenwart aushalten? Vor dieser Frage stand er unvermeidlich jedesmal, wenn sie sich am Ende des Treffens mit guten Wünschen verabschiedeten.
Doch diesmal war alles anders. Sie erzählte nicht von ihrer hübschen Tochter, die sie vor dem Kontrollzwang des Vaters schützen musste. Auch nicht von ihrem Sohn, der viele Konkurrenten beim sportlichen Wettkampf weit hinter sich ließ.
Diesmal erzählte sie atemlos von der Lawine an Ereignissen, die sie beinahe unter sich begraben und ausgelöscht hatte. Die Lawine, die ihr Freiheit schenkte. Freiheit, mit der sie verlernt hatte, umzugehen.
Sie war frei! Sie hatte sich getrennt von dem Mann, der sie all die Jahre unterdrückt und isoliert hatte.
Sein Herz klopfte ihm bis zum Hals. Er begann zu schwitzen. War jetzt endlich der Zeitpunkt gekommen, sich ihr zu offenbaren? Ihr nach so langer Zeit, seine Liebe zu gestehen?
Doch was würde das bringen?
Er lebte in München in einer eheähnlichen Vernunftbeziehung ohne Liebe, hatte eine sichere Anstellung.
Sie lebte in Köln mit ihren Kindern, hatte nur ein kleines Einkommen.
Würde er den Mut haben, sein Leben komplett neu aufzurollen?
Sie unterhielt sich lange mit ihm, bisweilen kurz unterbrochen von anderen Schulkameraden, die auch neugierig waren, warum sie diesmal so strahlte. Die meisten beglückwünschten sie und schlossen sie herzlich in die Arme.
Während des Essens saß sie nicht am gleichen Tisch wie er, sodass er gezwungenermaßen seine Aufmerksamkeit auf die an seinem Tisch diskutierten Themen richten musste.
Dennoch schweifte sein Blick immer wieder zu ihr. Sie gehörte zu den Frauen, die mit fortschreitendem Alter schöner wurden. Das hatten auch andere Kameraden bemerkt und buhlten eifrig um ihre Aufmerksamkeit.
Wie froh war er, als die Tische abgeräumt wurden und sich lockere Grüppchen im Stehen wie im Sitzen zusammenfanden.
Aber was war das? Sie kam direkt auf ihn zu! Freundlich fragte sie, wie ihm das Steak geschmeckt habe.
Woher wusste sie, dass er ein Steak gegessen hatte? Das hatte sie unmöglich sehen können! War das nur ein Schuss ins Blaue?
Er errötete, als ihm dämmerte, dass er bei ihren früheren Verabredungen im letzten Schuljahr immer - immer - ein Steak gegessen hatte. Ein Steak mit Bratkartoffeln. Weil er sich für viel zu dünn gehalten hatte und immer noch hielt.
Sie redeten und redeten. Als ob es nur sie beide gäbe. Sie sprachen über Wirtschaft und Politik, über die Eltern, die langsam in das Alter kamen, in dem früher die Großeltern waren. Seine Mutter war sehr krank gewesen und vor einigen Monaten gestorben.
Ihr Blick umhüllte ihn mit einer Wärme, die er gerne physisch gespürt hätte. In diesem Augenblick wollte er ihren weichen Körper an seinem spüren, die Sehnsucht ließ seinen Hals ganz eng werden. Dennoch hielt er sich zurück, richtete seinen Blick auf den Boden, damit sie nicht die Tränen in seinen Augenwinkeln sehen konnte. Er wusste selber nicht, warum er auf einmal solche Trauer verspürte. Wegen seiner Mutter? Oder wegen ihr, die bald wieder für fünf Jahre aus seinem Leben verschwinden würde?
Sie gehörten zu den Letzten, die das Restaurant verließen. Er hatte etwas Wein getrunken und machte Anstalten ein Taxi zu rufen. Das wollte sie jedoch nicht zulassen. Diesmal sei sie dran, ihn mit ihrem Auto nach Hause zu seinen Eltern zu bringen, wo er nächtigte. Er habe sie doch früher auch immer nach Hause gebracht. Eine leichte Röte überzog ihre Wangen, als sie das vorschlug.
Er lenkte mit einem albernen Witz von seiner Verlegenheit ab und nahm ihr Angebot nur zu gerne an. Lachend verabschiedeten sie sich von den drei verbliebenen Schulkameraden und liefen zu dem Parkplatz.
Unterwegs im Auto plauderten sie weiter über alle möglichen Themen, nur nicht über das, was augenscheinlich beiden am Herzen lag. Als sie schließlich vor dem Haus seiner Eltern ankamen, machte sie den Motor aus. Die plötzliche Stille erinnerte sie daran, dass sie beide in Kürze wieder alleine sein würden.
Sie wendete sich ihm zu, aber er starrte weiter geradeaus aus dem Fenster und sah - nichts. Er überlegte panisch, was er jetzt sagen oder tun sollte. Sich einfach nur bedanken und gehen?
Sie begann, in ihren gemeinsamen Erinnerungen zu schwelgen. "Weißt du noch…?", begann fast jeder Satz. Ja, er wusste noch. Er wusste noch alles, hatte es nie vergessen können, wie oft er es ihr hatte sagen, wie oft er sie hatte küssen wollen - und wie oft er es nicht gewagt hatte. Wie oft waren sie stundenlang im Auto gesessen, hatten geredet und geschwiegen. Nie hatten sie sich umarmt. Jedesmal, nachdem sie ausgestiegen war, hatte er Leere empfunden und sich nach dem nächsten Morgen gesehnt, sie in der Schule wiederzusehen.
Und diesmal? Redeten sie wieder um den heißen Brei herum. Nach nahezu zwei Stunden entschieden sie, auszusteigen, um sich angemessen verabschieden zu können.
Ein bisschen steif staksten sie um das Auto herum und legten ungelenk die Arme umeinander.
Fest hielten sie sich umschlossen auf der leeren, dunklen Straße mitten in dem schlafenden Viertel, als er ihre Worte an seinem Ohr hörte: "Ich habe nie aufgehört, dich zu lieben."
Dreißig Jahre lang hatte er auf diesen Satz gewartet. Und jetzt war er nicht fähig, etwas zu erwidern; hielt seine Jugendliebe einfach nur fest in den Armen, nahm ihre Wärme und Duft in sich auf.
Nach einer gefühlten Ewigkeit lösten sie sich ein wenig; Auge in Auge standen sie voreinander.
Ihr Blick fragend, die Lippen leicht geöffnet, den lang ersehnten Kuss erwartend.
Sein Blick voller Trauer, die Lippen fest zusammengepresst.
"Ich bin nicht gut genug für dich."
Seine Worte, wie eine kalte Dusche.
Betäubt ließ sie ihre Arme von seinen Schultern herabgleiten. Kopfschüttelnd ging sie zur Fahrertür ihres Autos, öffnete sie, fühlte ihr Herz bluten, stieg ein. Die unsinnige Hoffnung, dass er sich besänne und sie zurückhielte.
Er stand jedoch bewegungslos an der gleichen Stelle, sah ihr nur hinterher. Sie startete den Motor, winkte ihm kurz zu und fuhr davon.
Gelähmt vor Schmerz hielt er die Augen fest verschlossen, um nicht zu weinen.
Ihr rannen derweil heiße Tränen die Wangen herab, die Verkehrsschilder verschwammen vor ihren Augen. Wie oft hatte sie sich vorgestellt, wie es wäre, wenn - ja, wenn es ihnen beiden gelänge, das aus eigenen Ängsten gemauerte Gefängnis zu verlassen.
Dreißig Jahre lang war er immer bei ihr in einem geheimen Kästchen in ihrem Herzen gewesen.
Jetzt war es Zeit, ihn freizulassen.
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