Else hat das letzte Wort
Ich habe einen Freund.Einen sehr guten Freund.
Ich meine so einen Freund, der einem sein Motorrad leiht, weil man selber keins hat.
Oder quer durch die Stadt fährt, um einen mit seinen Starthilfekabeln aus der Bredouille zu helfen.
Oder stundenlang mit einem per Handy Motorradangebote auf mobile.de durchgeht.
Oder kilometerweit mit einem fährt, um sich ein Motorrad anzusehen und einen bei der Kaufentscheidung berät.
Ich meine so einen Freund, der einen nicht im Dunkeln stehen lässt, auch wenn er selber keine Ahnung hat, wo der Lichtschalter ist.
Ein Freund, der einen aus der Trägheit scheucht und einem zeigt, wie man Nägel mit Köpfen macht und nicht, wo der Hammer hängt.
Ein Freund, der mit den Zähnen knirscht und knurrt, wenn mir jemand was Böses will.
So einen Freund habe ich.
Er ist ein Freund, mit dem man Frame für Frame Billard spielen kann. Nicht Taschenbillard, nein, Poolbillard. Jeder Stoß ist eine Freude, wir sind etwa gleich gut. Nicht der Sieg ist der Gewinn, sondern jedes einzelne Spiel.
Er ist ein Freund, der sich wunderschöne Touren für das Motorrad überlegt, die wir gemeinsam befahren, und dabei nicht vergisst, dekorativ ein grasendes Rehlein auf die Wiese zu stellen.
Er ist ein Freund, der mich auch mal mit einem Ausflug per Auto überrascht, ohne mir das Ziel zu nennen.
Und dann, meine Lieben, kommt Else ins Spiel.
Aber der Reihe nach.
Ich weiß nicht, wohin es geht, wie weit es geht oder worum es geht.
Ich weiß nur, dass es geht, wann er mich abholt, und habe eine leise Ahnung, wann wir wieder zurück sein werden.
Ich vertraue ihm absolut. Ich habe keine Angst. Ich freue mich einfach. Auf die Zeit mit ihm, auf seine klugen Sprüche und Wortspiele, auf das unbekannte Ziel, das er ausgewählt hat.
Wenn er mit seinem über zwanzig Jahre alten Benzi ankommt, steige ich gerne ein und los geht's!
"Hoi! Wie geht's dir heute?", strahle ich ihn an.
"Eigentlich gut", grummelt er. "Ich habe mich nur vorhin mit Else gestritten."
Ich lache. Die gute alte Else. Sie passt auf, dass er nicht vom rechten Wege abkommt. Aber manchmal können sich die zwei nicht einigen. Und beide sind unglaublich stur.
"Und? Wer hat recht behalten?"
"Was denkst du denn?", grinst er mich an, "sie ist eben nicht allwissend. Auch, wenn sie das glaubt."
"Na, denn mal los! Ich bin gespannt, wo wir heute landen!"
Er lächelt nur rätselhaft und fährt los.
Else sitzt ungerührt zwischen uns. Ihr ist es egal, wo wir hinfahren. Hauptsache, wir fahren so, wie sie es will.
Else ist reichlich unerzogen. Sie lässt einen nie ausreden, fällt einem einfach mit lauter Stimme ins Wort, egal , ob man gerade einen Heiratsantrag macht oder kurz vor der Pointe des Witzes steht.
Manchmal habe ich das Gefühl, sie kann mich nicht leiden.
Obwohl - ich glaube, sie kann überhaupt niemanden leiden.
Es ist ihr auch piepegal, ob ich sie mag oder nicht.
Sie besteht nur mit allen Mitteln, die ihr zur Verfügung stehen, darauf, dass man nach ihrer Pfeife tanzt.
Sie ist extrem rechthaberisch und lässt nicht mit sich diskutieren.
Das letzte Mal, als ich das versuchte, hat sie ohne mit der Wimper zu zucken auf ihrer Meinung beharrt und hat keinen Millimeter nachgegeben.
Ich habe aber nicht aufgegeben, weil ich wusste, dass ich Recht habe.
Dann hat sie einfach komplett dicht gemacht und uns im Dunkeln stehen lassen.
Ich habe selten jemanden erlebt, der so unflexibel ist.
Und selbst, wenn man denkt, sie hat endlich kapiert, dass sie falsch liegt, nimmt sie einfach ganz hinterlistig einen Umweg in Kauf, um einen schließlich doch wieder auf ihre Spur zu bringen.
Humor hat sie überhaupt keinen. Jedenfalls habe ich sie noch nie lachen hören. Nicht mal, als wir eine Adresse in Busenhausen suchten.
Und doch nehmen wir sie jedes mal mit auf unsere Ausflüge und erdulden ihr starrsinniges Dazwischengequatsche.
Nur für den Fall, dass sie Recht hat.
Ich erzähle also gerade eine lustige Anekdote über eine unsinnige Spielanleitung für zwei Spieler, die im Uhrzeigersinn spielen sollen (man überlege sich das mal, wie sinnvoll das ist…), da schnarrt mir Else dazwischen : "Der Straße folgen."
Ich verdrehe genervt die Augen, will weitererzählen, von der französischen Version der Anleitung, da knarrt sie: "Nehmen Sie beim Kreisverkehr die zweite Ausfahrt in Richtung Upskirchen."
"Also in der französischen Ausgabe der Spielanleitung…"
"Bitte die zweite Ausfahrt nehmen."
Danke, Else. Was wollte ich gerade sagen?
Ach ja, die französische Version (ich weiß, was Ihr alle denkt) sagt nix über Uhrzeigersinn, was mich also schwer zweifeln lässt an der Sinnhaftigkeit des Uhrzeigersinns.
Im Kreisverkehr geht's jedenfalls gegen den Uhrzeigersinn und wir fahren um zwölf Uhr raus. Sorry, ich meine "bei" zwölf Uhr.
Aber ich habe keine Lust mehr auf Spiele und auf französisch schon gar nicht.
Wir fahren an einer grünen Weide vorbei, auf der Pferde friedlich grasen.
Da fällt mir eine Aussage von einem der Kinder ein, die ich betreue.
"Weißt du, letzte Woche hat einer meiner Schüler mein Weltbild korrigiert", fange ich an,
" er sagte…"
"An der Ampel rechts einordnen", knarzt Else absolut desinteressiert.
"Ja, also er sagte, Pferde sind wie Kühe. Die stammen auch von …"
"...in fünfzig Metern scharf rechts abbiegen und dann links halten."
Ähm, wie war das nochmal mit den Pferden? Dasselbe fragt mich mein Freund am Steuer des Benzi.
"Ja - äh - er sagte, Pferde sind wie Kühe. Die stammen auch von Zebras ab."
"Von Zebras?" Mein Freund gluckst vor Lachen über diese Reformation der Evolution, aber im nächsten Moment tritt er mit aller Kraft auf die Bremse. Zebrastreifen. Auf der Straße.
Mein Freund fragt: "Und von wem stammen die ab?" Der Schalk blitzt ihm dabei aus den Augen.
"Du Schuft!", lache ich. Ich habe mich überhaupt nicht erschreckt. Versuche ich mir einzureden.
"Bitte geradeaus weiterfahren."
Ach, Else. Anders geht es hier sowieso nicht weiter. Wir sind in einer Einbahnstraße.
Aber warum parken die Autos auf beiden Seiten der Straße verkehrt herum?
"Bist du sicher, dass wir hier richtig sind?", will ich wissen.
"Nun, hier kenne ich mich nicht aus und verlasse mich blind auf unsere Freundin."
Mit einem mulmigen Gefühl im Bauch folgen wir weiter dem Straßenverlauf.
Warum bleiben die Fußgänger stehen und winken uns?
Ist hier irgendwo eine Kamera versteckt?
Ich schaue suchend nach rechts und links.
Da rutsche ich auf einmal mit voller Wucht in den Sicherheitsgurt, meine Brille rutscht von der Nase und mir entfährt ein Schreckensschrei.
Ich will losschimpfen: "Du brauchst aber jetzt nicht bei jedem Zebrastreifen Charles Darwin um Rat fragen! Und hier ist doch gar keiner! Was…?"
Die Augen meines Freundes sind schreckgeweitet, seine Hände fest um das Lenkrad verkrampft. Er sieht fassungslos zur Windschutzscheibe hinaus. Ich folge seinem Blick.
Oh nein! Verkehrte Welt! Eine empört bimmelnde Straßenbahn kommt uns mit quietschenden Bremsen entgegen! Hektische Blicke hin und her. Beide Seiten der Straße sind zugeparkt. Keine Möglichkeit zum Ausweichen.
Ich seh uns schon als Leberwurst auf dem Straßenpflaster verschmiert, als mein Freund entschlossen den Rückwärtsgang einlegt. Er positioniert seinen rechten Arm hinter der Lehne des Beifahrersitzes, dreht seinen Kopf nach hinten und gibt Gas.
In Filmen sieht man in solchen Situationen ja immer die Reifen qualmen und die Autos rückwärts davonflitzen. In der Realität fährt ein Auto im Rückwärtsgang nicht schneller als 40 km/h, und das ist nur etwas für Profis, da die Lenkung sich viel sensibler verhält als beim Vorwärtsfahren.
Mein Freund gibt sich also die größte Mühe, uns so schnell es geht aus dieser Straße und in Sicherheit zu manövrieren.
Gut, dass er nicht wie ich sieht, dass die Straßenbahn immer näher kommt. Ich kann schon das angstverzerrte Gesicht des Fahrers erkennen.
Ein kurzer Blick nach hinten zeigt mir, dass es noch etwa sechzig Meter sind, die wir überwinden müssen. Sechzig Meter können sich manchmal anfühlen wie sechshundert. Mein Herz klopft wie verrückt, als ich die verzweifelte Konzentration meines Freundes spüre.
Nur kurz denke ich an Else, die uns das eingebrockt hat. Ob sie das absichtlich gemacht hat?
Warum halten wir nicht einfach an und steigen schnell aus? Die Panik steigt in mir hoch, Schweißtropfen bilden sich auf meiner Stirn, obwohl mir eigentlich kalt ist.
Ich zwinge mich, wieder einen Blick auf die Straßenbahn zu werfen - und wage kaum, meinen Augen zu trauen: Die Distanz ist wieder größer geworden! Der Lokführer hat es tatsächlich geschafft, die Bahn anzuhalten.
Und aus den sechzig Metern sind zehn Meter geworden.
Leise sage ich: "Der Zug steht."
Ich kann die Anspannung von dem Gesicht meines Freundes weichen sehen. Er gibt weniger Gas, seine Hand hält das Lenkrad nicht mehr so fest. Er schluckt und atmet tief ein und aus.
Endlich ist die Straße zu Ende und er steuert seinen Benzi nach links an den Fahrbahnrand. Dort bleiben wir erstmal stehen. Der Schreck sitzt uns noch in den Gliedern und nur langsam normalisiert sich unser Puls.
Mit niedriger Geschwindigkeit nähert sich die Straßenbahn, die nun wieder freie Fahrt hat. An der Einmündung der Straße stoppt sie. Erst jetzt entdecke ich die runden, roten Verkehrsschilder mit dem weißen Querstrich. Wer hat die denn da hingestellt? Die waren doch vorhin noch nicht da!
Wir steigen benommen aus und laufen zu dem Führerhaus der Bahn, wo der Fahrer das Fenster geöffnet hat.
"Das war aber knapp! Bei welchem Fest haben Sie denn Ihren Führerschein gewonnen?", erklingt seine genervte Stimme.
"Es tut mir außerordentlich leid", antwortet mein Freund. "Ich bin den Anweisungen von Else gefolgt. Vermutlich habe ich die Schilder nicht bemerkt, weil ich kurz auf ihren Bildschirm geschaut habe."
"Das sind mir die Liebsten! Können nicht Auto fahren und schieben die Schuld auf ihre Frau!", zetert der Fahrer erbost.
Mein Freund sieht mich an, und wir müssen beide trotz der angespannten Stimmung lachen.
"Else ist nicht meine Frau", beginnt er zu erklären.
"Aha, das wird ja immer wilder! Und was sagt Ihre Frau dazu, wenn Sie mit Else die Einbahnstraßen unsicher machen?"
"Was hat denn meine Frau damit zu tun?", will mein Freund wissen.
"Ach! So ein Sodom und Gomorra! Unsere Welt geht vor die Hunde", meint der zornige Fahrer kopfschüttelnd. "Seien Sie froh, dass ich heute gute Laune habe!"
"Sie haben gute Laune?", wiederholt mein Freund verblüfft.
"Ja, allerdings! Sonst würde ich Sie anzeigen wegen Verkehrsgefährdung. Sie haben Glück, dass ich eine Leerfahrt habe. Keiner wurde durch die Bremsung verletzt, keiner wird sich beschweren. Und ich will weiter, habe gleich Feierabend."
"Na, da haben wir ja doppelt Glück!", resümiert mein Freund. "Vielen Dank für Ihr Entgegenkommen!"
Wir verabschieden uns, grinsen uns unauffällig zu, während wir zurück zum Benzi gehen und einsteigen.
Im Auto schauen wir uns gegenseitig an. Dann wenden wir unseren Blick auf diejenige, die uns in diese prekäre Lage gebracht hat.
Das sieht ihr ähnlich - sich einfach zurückziehen und für niemanden greifbar sein! Ihr Bildschirm ist rabenschwarz.
Die soll sich doch schämen! Uns so in die Irre führen und in Lebensgefahr bringen!
Für mich ist Else gestorben.
Mein Freund versucht, sie durch Drücken von diversen Knöpfen wieder zum Leben zu erwecken.
Plötzlich ist ein leises Zischen zu vernehmen. Diese Schlange! Ein feiner Qualmfaden steigt aus ihrem Gehäuse empor.
Else hat den Freitod gewählt.
Ich werde sie nicht vermissen.
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