Atemlos
Das Display des Telefons zeigt einen eingehenden Anruf an. Meine Freundin Lulu.„Hallo Süße, bist du schon aus dem Urlaub zurück?“
„Nein, hier ist etwas schrecklich schiefgelaufen. Ich konnte außer dir niemanden erreichen, und mein Akku ist gleich leer. Könntest du mich heute Nachmittag in Frankfurt am Flughafen abholen?“
„Um welche Zeit kommst du an?“
„Um 15:55, Terminal 1. Können wir uns am Meeting-Point treffen? Es tut mir wirklich leid, dass ich dich bitten muss. Ich erkläre Dir die ganze Geschichte später.“
„Kein Thema. Bis nachher. Ich bin schon gespannt.“
„Ich bin dir wirklich sehr dankbar. Bis dann.“
Meine Planung für diesen Sonntag ist dahin, aber eine Freundin in einer Notlage lasse ich natürlich nicht hängen. Ich sende eine SMS an Carolin, um unser Treffen zu verschieben, und konsultiere einen Routenplaner. Zweidreiviertel Stunden Fahrtzeit … da muss ich um 12:30 Uhr aufbrechen, wenn ich eine Sicherheitsreserve einkalkuliere. Nur 45 Minuten bis dahin.
Ich gehe schnell noch mit dem Hund raus und starte, ohne mich umzuziehen. Lulu wird es nicht stören, wenn ich in ausgefransten Jeans und festem Schuhwerk dort auftauche. Die Fahrt zieht sich, es gibt immer wieder Baustellen, aber ich bin um 15:30 am Flughafen. Im Ankunftsbereich verschaffe ich mir einen Überblick über die ankommenden Flüge und traue meinen Augen nicht. Der Flug aus Tunis hat Verspätung. Voraussichtliche Ankunft 16:45. Na toll! Jetzt kann ich über eine Stunde hier herumsitzen.
Ich begebe mich in einen der Relay-Shops, um mir für die Wartezeit etwas zum Lesen zu besorgen. Als ich die Rückseite eines Taschenbuchs studiere, sagt eine Stimme hinter mir fragend: „Sandy?“
Ich drehe mich um und stehe einem fremden Mann gegenüber, der mich erwartungsvoll ansieht. Etwa meine Größe, rundlich mit schütterem Haar, knappe Jeans, die den Bauch über dem Gürtel herausdrückt. Ein Hemd mit mehreren geöffneten Knöpfen, das eine ergraute Brustbehaarung und eine Panzerkette aus Gold um den Hals sehen lässt. Das erinnert mich an etwas. Ich sehe in sein Gesicht. Nein, das kann nicht sein! Und doch, die Nase und die Augen …
„Rainer?“, frage ich vorsichtig.
„Oh Sandy, dass wir uns hier wiedersehen, so unerwartet! Hast du Zeit, einen Kaffee mit mir zu trinken?“
Ich zögere, aber dann denke ich: ‚Was soll schon passieren, es ist über 30 Jahre her, ich kann damit umgehen.‘
„Ja, ich habe eine knappe Stunde Zeit. Wir haben uns sicher einiges zu erzählen.“
Kurz darauf sitzen wir uns in einem Café gegenüber. Ein wenig stört mich die eher kühle Atmosphäre des Lokals. Sie passt nicht so recht zu den Erinnerungen, die – noch gezähmt von meiner Ratio - drängend anklopfen.
Wir bestellen Kaffee und sehen uns eine Zeit lang schweigend an, jeder in seine eigenen Gedanken versunken. Wenn er mich nicht angesprochen hätte, hätte ich ihn nicht wiedererkannt. Die einst vollen Locken haben einer beginnenden Stirnglatze Platz gemacht, das Gesicht ist voller und ein wenig aufgedunsen. Die ganze Erscheinung wirkt ein wenig lächerlich. Ein alternder Mann, der mit seinem Outfit versucht, eine jugendliche Ausstrahlung zu kopieren.
Mit Schrecken kommt mir der Gedanke, wie er mich wohl sehen muss. Ich bin über die Jahre auch nicht schöner geworden. Meine Figur ist weit mehr aus dem Leim gegangen als seine, ich werde mir meines ergrauten Haaransatzes bewusst, der schon eine gewisse Länge erreicht hat, weil ich keine andere Möglichkeit habe, die schwarze Farbe loszuwerden, ohne mein Haar schwer zu schädigen. Ich bin ungeschminkt, und auch wenn ich wenig Falten habe, ist doch das Gesicht schon etwas erschlafft und hat nicht mehr die Frische, die es zu unserer Zeit noch besaß. Ob er mich wohl auch mit meiner jugendlichen Ausgabe vergleicht?
Ich sehe ihm in die Augen … und da ist es noch, dieses vitale Blitzen, das ihn früher so attraktiv gemacht hat. Und da ist noch etwas. Etwas, was ich nicht erwartet hätte nach all der Zeit, was mich tief berührt und alte Schuldgefühle schlagartig nach oben spült. Er nimmt meine Hand und haucht einen Kuss auf die Innenfläche meines Handgelenks. Diese zarte Berührung katapultiert mich in das Wurmloch einer ungewollten Zeitreise zu unserer kurzen, magischen Affäre.
„Ich habe dich nie vergessen, obwohl du mich damals einfach weggeworfen hast“, unterbricht er meine Erinnerung.
Meine Kehle wird eng. Was soll ich ihm sagen? Dass mich unsere Trennung mehr geschmerzt hat als ihn, und dass er heute – viele Männer später – immer noch „the one and only“ für mich ist und außerdem der beste Liebhaber, den ich je hatte? Nein, das ist unmöglich. Ich habe mir mein Leben eingerichtet und mich mit den Gegebenheiten arrangiert. Ich habe die Kontrolle und brauche kein erneutes Gefühlschaos.
Was dann aus meinem dummen Mund kommt, hört sich an wie „ich liebe dich auch“.
© Sirona5
18.10.2020