Gletscherbonbons
Leuchtend, klar, rund, hellblau. Nein. Nicht einfach nur hellblau, sondern irisierend in sämtlichen Blautönen, als wenn die Eiskristalle von dem gesamten Spektrum der Sonnenstrahlen nur diese eine Farbe wiedergeben könnten. Wie die Gletscherbonbons, die sie schon als Kind so sehr geliebt hatte.Das waren die Gedanken, die ihr durch den Kopf schossen, als ihr Blick in die Augen des Mannes tauchte, dem man nachsagte, der Fahrradflüsterer schlechthin zu sein.
"Ja, alle Leute holen jetzt nach dem Winter das Fahrrad aus dem Schuppen und sind überrascht, wenn die Reifen schlapp sind und die Pedale quietschen. Auch das Zweirad braucht ein bisschen Pflege." Er deutete auf die Reihe Fahrräder in seiner Werkstatt, die auf seine heilenden Hände warteten.
"Heutzutage will sich ja keiner mehr die Finger dreckig machen oder einen Gabelschlüssel in die Hand nehmen. Und immer weniger Menschen verstehen die technischen Zusammenhänge, weil sie es lieber machen lassen."
Während er redete, konnte sie den Blick nicht von seinen Augen wenden. Sie nahm kaum auf, was er sagte. Diese Augenfarbe - einfach der Hammer! Blau wie Gletschereis - zumindest so, wie sie es sich vorstellte. Sie erinnerte sich an die blauen Bonbons, die sie als Kind eine Weile gelutscht, dann aus dem Mund genommen und gegen die Sonne gehalten hatte. Glitzerndes, helles Blau und Türkis. Einmal hatte sie zu lange durch das Bonbon in das gleißende Licht gestarrt. Als sie die Augen zugemacht hatte, war lange nur der strahlende azurfarbene Edelstein vor rabenschwarzem Hintergrund auf ihre Netzhaut eingebrannt.
"Und Ihr Fahrrad rattert also beim Treten? Die Kurbel dreht sich aber ohne Schwierigkeiten?" Seine Fragen holten sie zurück aus der Vergangenheit. Sie musste sich konzentrieren, um sich nicht in der eiskalten Bläue zu verlieren. Der Lust widerstehen, sich dem glitzernden Strudel hinzugeben und in dieser unbeschreibbaren Farbe unterzugehen.
"Äh, ja. Es rattert, wenn sie sich dreht. Also, es fühlt sich holprig an." Was faselte sie da? Sie war sich sicher, dass das Tretlager nicht in Ordnung war. Warum war sie nicht fähig, das zu sagen? Wie konnte es nur sein, dass seine Augen so leuchteten? Hatte er winzige Sonnen anstelle von Augäpfeln? Sie war fassungslos ob der Schönheit dieses Farbspiels.
Er beugte sich zu ihrem Fahrrad herab, um den Schaden zu begutachten.
'Nein, nein! Nicht das Fahrrad anschauen! Schau mich an!' Sie konnte es nicht ertragen, die türkise Brillanz nicht mehr betrachten zu dürfen. Überlegte fieberhaft, wie sie den Mechaniker dazu brachte, sie wieder anzusehen.
"Schaffen Sie es denn heute noch?", fragte sie schließlich. 'Wie stupide! Ist dir nichts Besseres eingefallen?' Stumm schimpfte sie mit sich selbst.
Er hob jedoch die dunklen Wimpern - ein schwerer Vorhang gab eine Hochgebirgsszenerie frei - und sah sie ernst an. Sie las aus seinem Gesichtsausdruck schon die Antwort auf ihre Frage.
"Nein. Da muss ich Sie leider enttäuschen. Frühestens morgen Nachmittag. Könnte aber auch übermorgen werden. Mein Kollege ist in Urlaub, und ich muss alles alleine wuppen."
Nur nach und nach nahm sie auch das restliche Gesicht wahr. Die Lachfältchen milderten die flirrende Eiseskälte der Augenfarbe. Die braungebrannte Haut erzählte von vielen Stunden an der frischen Luft. Vielleicht war er ja in den Bergen wandern gewesen? Vielleicht hatte er den Gletscher zu lange betrachtet, sodass seine Iris dessen atemberaubende Farbe angenommen hatte? Und gleich dazu die Sonne eingefangen, auf dass sie das Souvenir angemessen beleuchte!
'Was für ein kindischer Aberglaube!' Sie schüttelte den Kopf.
"Tut mir leid." Er schlug seine Augen nieder, und sie vermisste deren Helligkeit im selben Moment.
'Oh bitte! Sieh mich an!' Sie starrte auf seine Lider, als wenn sie sie dadurch aufzwingen könnte.
Vielleicht war ihre Bitte angekommen, vielleicht war es Zufall, aber er hob seinen Blick wieder, und sie tauchte erneut voller Wollust in diesen faszinierenden Glanz. Ob er eine Ahnung hatte davon, was seine außergewöhnliche Augenfarbe bei ihr anrichtete?
"Ich kann Ihnen Folgendes anbieten: Sie lassen mir Ihre Telefonnummer hier. Dann rufe ich Sie sofort an, wenn Ihr Fahrrad wieder fahrbereit ist."
Offen sah er sie an, sodass sie wieder in den Gletschergenuss kam. Sie badete in der Kühle des Blaus und wärmte sich an der Geschichte seiner Fältchen. Es fiel ihr schwer, eine Antwort zu formulieren. Zerstreut murmelte sie: "Ja, sicher."
Er ging zu dem kleinen Tisch, auf dem sich auch die Kasse befand. Aus einer Schublade entnahm er den Block mit den Auftragsformularen und ergriff einen der bereitliegenden Kulis.
Fragend richtete er seinen Blick auf sie. Sie war dem hinreißenden Türkis schon längst erlegen. Was wollte er nur jetzt von ihr? Sie versuchte verzweifelt, sich zu erinnern, konnte jedoch nur eine überwältigende Sehnsucht finden. Sehnsucht danach, in diesem Gletschersee zu ertrinken.
"Ihre Telefonnummer?", hakte er verwundert nach.
'Telefonnummer? Ach ja! Das war es!'
"Ähm, ja. Meine Telefonnummer. Null, eins, sechs, null, ääh …" Fieberhaft überlegte sie. Normalerweise ratterte sie die Zahlen ohne Probleme herunter, aber heute war ihr Hirn wohl türkisifiziert.
"Haha! Man ruft sich selbst ja auch selten an! Die wenigsten Leute kennen ihre eigene Nummer auswendig." Er lachte verständisvoll und schuf damit kleine Gräben und Furchen rings um den See.
Sie richtete den Blick, wie um sich selbst zu strafen, auf die Wand hinter ihm, an der alle möglichen Werkzeuge ordentlich aufgehängt waren. Auf einmal purzelten die Zahlen an die richtige Stelle, und sie diktierte ihm die Telefonnummer flüssig und ohne zu zögern.
"Gut. Ich rufe Sie also an, sobald ich fertig bin. Vielleicht kann ich Ihr Fahrrad irgendwo dazwischen schieben."
Wie in Trance unterschrieb sie den Werkstattauftrag.
"Hm, da gehört eigentlich das Datum hin, aber egal …" Schmunzelnd sah er sie wieder an.
Tja. Jetzt war es wohl an der Zeit zu gehen. Die Fahrräder reparierten sich nicht mit schönen Blicken. Wenn sie noch länger bliebe, würde es peinlich.
Sie riss sich mit aller Gewalt los von der schimmernden Gletscherkälte, verabschiedete sich und verließ das unscheinbare, kleine Gebäude im Hinterhof.
Innerlich schalt sie sich eine lächerliche Idiotin. Wie kann man sich nur von Gletscherbonbons so durcheinander bringen lassen? Sie beschleunigte ihren Schritt und entfernte sich rasch.
Dennoch … Morgen wird sie in der Nähe der Werkstatt sein. Der Fahrradflüsterer wird ihr ein paar türkisgefüllte Blicke schenken müssen, wenn sie nach dem Stand der Dinge fragt!
Rein zufällig natürlich.
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