Herbsttage in Paris
Der Flohmarkt von Saint-Ouen
Während Tim glaubte, in dem tiefen Blau ihrer Augen zu versinken, begann die Zeit, sich zu dehnen.
Er hatte keine Ahnung, wie lange er schon ihre Hand hielt, als er ihr amüsiertes Lächeln bemerkte und sie mit einer gemurmelten Entschuldigung wieder losließ.
Es entstand eine unangenehme Pause.
Die Frau sah ihn abwartend an.
Er wusste nicht, was er sagen sollte.
Ein Ausdruck von Enttäuschung huschte über ihr schönes Gesicht und sie schickte sich an, wieder Platz zu nehmen.
In einem Anflug von Panik stieß er hervor: „Parlez vous anglais?“
Sie hielt in der Bewegung inne und erwiderte: „Yes a little bit.“
Darüber war Tim erst einmal froh, doch nun überlegte er fieberhaft, was er als nächstes sagen sollte.
„Would you like to have your coffee with me?“
Sie hatte anscheinend schon längst ihre Entscheidung getroffen.
„Sure why not“, antwortete sie ohne zu Zögern, und auch das Lächeln kehrte in ihr Gesicht zurück.
Tim bot sich an, ihr Kaffeeservice auf seinen Tisch zu transferieren und sie ließ ihn gewähren. Den rechten Ellbogen in die linke Hand gestützt, beobachtete sie rauchend aufmerksam jede seiner Handbewegungen, was ihn etwas verunsicherte.
Er erinnerte sich an die leicht herablassende Art, mit der sie vorher den Kellner bedacht hatte.
'Tu mal nicht zu angestrengt', mahnte er sich.
Aber in seinem Inneren herrschte Aufruhr. Tausend Gedanken rasten durch seinen Verstand.
Wie lange war es her, dass er mit einer Frau geflirtet hatte? Dazu noch auf Englisch.
Und mit so einer Frau?
So eine Frau hatte er überhaupt noch nie kennengelernt.
Seine Gedanken kehrten zu Karin zurück. Siebzehn Jahre waren sie zusammen gewesen. Fast vierzehn davon verheiratet. Karin war eine attraktive Frau, die auch heute noch die Blicke anderer Männer auf sich zog. Ein Umstand, der ihm immer missfallen hatte.
Kein Wunder, dass es nur wenige Monate nach der Trennung einen neuen, jüngeren Mann an ihrer Seite gab.
Es hatte ihm fast das Herz zerrissen, als er sie das erste Mal zusammen sah.
Ja, Karin war eine begehrenswerte Frau.
Aber diese Frau, die hier so lässig rauchend und ihn taxierend neben ihm stand, spielte in einer anderen Liga. In ihrer ganz eigenen.
Er rückte ihr den Bambusstuhl links von seinem zurecht und ließ sie Platz nehmen.
Dabei achtete er darauf, dass ihr genug Raum blieb, um die Beine überzuschlagen. Was sie auch tat, und er jetzt seinerseits aufmerksam beobachtete. Dabei sah er für einen winzigen Augenblick die metallenen Clips aufblitzen, die ihre Nylonstrümpfe hielten.
Sofort schoss ihm Blut in Lenden und Gesicht.
Schnell nahm er selbst Platz.
Obwohl sie sich nun auf Englisch unterhielten, entwickelte sich ihr Gespräch zu einem kurzweiligen Frage-und-Antwort-Spiel.
Sie wollte wissen, woher er komme
IT finde sie sehr langweilig. Kunst sei ihre große Leidenschaft.
Vor einem Monat war sie, nach einem Jahr in Amsterdam, nach Paris zurückgekehrt.
Auch er war im letzten Jahr oft beruflich in Amsterdam gewesen.
Und es stellte sich heraus, dass sie beide oft in der
Lost in Amsterdam Lounge nahe der Prins Hendrikkade gewesen waren. Einem dieser hippen Läden, die tagsüber ein Café waren und am Abend zu einer Cocktailbar wurden.
Sie wäre ihm sicher aufgefallen, wenn sie zur gleichen Zeit dort gewesen wären, sagte Tim.
“Schon möglich“, entgegnete sie, „aber du hättest mich nicht angesprochen.“
Dabei hatte sie wieder diesen abschätzenden Blick. Er kam sich vor, als würde er gewogen, und hatte die tiefe Befürchtung, als zu leicht befunden zu werden.
Wie zur Bestätigung drückte sie plötzlich ihre erst halb gerauchte Zigarette aus und winkte den Kellner heran.
„Oh, musst du schon gehen?“, fragte Tim und konnte dabei seine Enttäuschung nicht verbergen.
„Ja, tut mir leid, aber ich habe einen Termin“, sagte sie. „Wenn du morgen Vormittag Zeit hast, könnten wir zusammen auf den Flohmarkt
Les Puces gehen. Das ist in Saint-Ouen.“
Nein, konnte er nicht. Es war Samstag und das Abschluss-Meeting seiner Reise stand an. Danach gab es noch ein informelles Beisammensein mit anschließendem Dinner. Aber was könnte schöner sein, als mit ihr über den größten Flohmarkt der Welt zu schlendern?
Er liebte Flohmärkte. Und vielleicht begann er, sich gerade in etwas ganz anderes zu verlieben.
'Egal', dachte er. 'Ich werde ihnen sagen, dass ich krank bin.'
„Das wäre wundervoll“, erwiderte Tim. Er wollte ihr noch sagen, wie schön er es fand, dass sie sich getroffen hatten, als der Kellner erschien.
Als Tim anbot, ihren Noisette zu übernehmen, brachte sie ihn mit einer kurzen Geste zum Schweigen. Der Kellner warf Tim einen abschätzigen Blick zu und er kam sich vor wie ein Trottel.
Veronique erhob sich geschmeidig wie eine Katze aus ihrem Stuhl, ohne das dieser auch nur das leiseste Geräusch von sich gab. Als Tim aufstand, knarzte es vernehmlich.
Beide gaben sich die Hand und verabredeten sich für den nächsten Tag um neun Uhr an der Endhaltestelle der Metrolinie 4, der Porte de Clignancourt.
Als Veronique schon im Begriff war zu gehen, drehte sie sich noch einmal zu ihm um und hauchte ihm einen flüchtigen Kuss auf die Wange.
Der Duft ihrer wogenden Haare strömte über ihn hinweg, ja scheinbar direkt durch ihn hindurch.
Und so stand er da wie versteinert und blickte ihr nach, wie sie die Rue Saint-Benoit hinunterging.
Er hoffte, sie würde sich noch einmal umdrehen und ihm vielleicht zuwinken, doch das tat sie nicht.
Schließlich verlor er sie aus den Augen.
Er setzte sich wieder und versuchte, sich an jedes Detail ihrer Unterhaltung zu erinnern.
An jedes Detail dieser umwerfenden Frau. Die sich tatsächlich noch einmal mit ihm treffen wollte.
Was sah sie in ihm?
Plötzlich riss ihn der Kellner aus seinen Gedanken, indem er ihm unaufgefordert aber, aufmerksamerweise einen weiteren Pastis und frisches Wasser brachte.
„Chapeau, Monsieur. Eighteen Euros, please.“
Als Tim am nächsten Morgen die Metro der Linie 4 bestieg, war ihm tatsächlich etwas flau im Magen. Was würde der Tag bringen?
Sein Geschäftspartner und Gastgeber, Monsieur Fontainebleau, war hörbar verärgert über seine vorgeschobene Magenverstimmung, um nicht zu sagen verstimmt.
Während ihn die Metro durch die Stadt in Richtung Seine-Ufer schaukelte, fragte sich Tim noch immer, was diese Klassefrau ausgerechnet von ihm wollte.
Sie war sicher einige Jahre jünger als er. Da er sich mit Rudern im Sommer und einem Personal Trainer im Winter in Form hielt und auch sonst auf seine Gesundheit und Ernährung achtete, waren ihm seine sechsundvierzig Jahre vielleicht nicht anzusehen, aber die grauen Schläfen und Falten um die Augen sprachen eine deutliche Sprache. Das Alter ließ sich eben nicht aufhalten.
Doch nun war er auf dem Weg zu seinem ersten Rendezvous seit einer gefühlten Ewigkeit.
Seit er Karin zu ihrem ersten Date ins Kino eingeladen hatte.
Sie hatten sich den Film
Die fabelhafte Welt der Amélie angesehen, erinnerte er sich jetzt amüsiert.
Und danach in ihrem WG-Zimmer miteinander das erste Mal geschlafen. Ganz leise mussten sie sein, weil die Wände so dünn waren. Ein wenig Wehmut erfasste ihn, doch er schob sie schnell beiseite.
Dann fuhr die Bahn auch schon in der Endstation ein, kam ruckelnd zum Stehen und die Türen öffneten sich zischend. Er stieg aus und nahm den Ausgang, an dem sie auf ihn warten würde.
Tim hatte die letzten Stufen noch nicht erklommen, da sah er sie im Licht der Vormittagssonne stehen. Er hielt kurz inne, um den Anblick noch etwas zu genießen.
Sie trug ein leuchtend rotes Kleid mit weißen Punkten und darüber eine abgetragene Jeans-Jacke. Es stand ihr perfekt.
Während er sie betrachtete, nahm sie einen tiefen Zug ihrer Zigarette und ließ den Rauch langsam durch ihre Nase entweichen. Der Qualm schimmerte blau im Sonnenlicht.
Er hatte es noch nie leiden können, wenn Frauen auf der Straße rauchten.
Jetzt aber war er geradezu fasziniert. Es erschien ihm wie eine Szene aus einem französischem Avantgarde-Film der 60er Jahre.
Als hätte sie seine Blicke gespürt, drehte sie sich zu ihm um und sah ihn verwundert an.
Er ging die letzten Stufen hinauf auf sie zu und sie begrüßten sich.
„Was machst du da unten?“, fragte sie ihn.
„Ich schaue dich an“, gab Tim zurück.
„Du bist ganz schön lustig“, lachte sie. "Für einen Deutschen."
Zusammen machten sie sich auf den Weg Richtung Saint-Ouen.
Nach ungefähr zehn Minuten hatten sie ihr Ziel erreicht.
Aus seinem Reiseführer hatte Tim erfahren, dass der Flohmarkt
Les Puces mit seinen über 3000 Ständen auf einer Fläche von 12.000 m² der weltweit größte Flohmarkt ist. Er besteht aus insgesamt 15 verschiedenen Teil-Märkten, von denen jeder mit einem einzigartigen Ambiente lockt.
Sie betraten den
Marché Vernaison, den ältesten Teil des großen Marktes, und Veronique erklärte, sie suche ein passendes Geschenk für den siebzigsten Geburtstag ihres Vaters, einen ehemals hohen Regierungsbeamten im Ruhestand. Er hatte sich zusammen mit ihrer Mutter auf einen kleinen Landsitz in der Gascogne zurückgezogen und züchtete dort nun seltene Taubenarten.
Tims Reiseführer hatte nicht zu viel versprochen. Der Markt war geradezu überwältigend. Sowohl in seiner schieren Größe als auch in seinem vielfältigen Angebot. Hier gab es wirklich die unglaublichsten Dinge zu kaufen.
Sie schlenderten durch die Gassen der Stände, bis sie zu einem Bereich kamen, in dem vorwiegend Kunstwerke angeboten wurden.
Tim staunte über die Preise, die so gar nicht zu seiner Vorstellung von einem Flohmarkt passen wollten. Sie betraten mehrere Läden und Veronique sah sich in aller Ruhe um. Er ließ sie gewähren und tat es ihr nach. Gerade besah er sich einen exquisiten Sekretär aus dem 18ten Jahrhundert.
„Tim, Tim!“, hörte er sie plötzlich rufen.
„Schau nur, das ist genau das, was ich gesucht habe.“
Das kleine, goldgerahmte Gemälde zeigte ein junges Bauernmädchen, das eine Taube in ihren Händen hielt.
„Papa wird es lieben“, rief sie fröhlich.
'So viel gezeigte Begeisterung wird sich sicherlich im Preis niederschlagen', dachte Tim.
Doch Veronique verhandelte nur sehr kurz mit dem Verkäufer.
Der stellte das Gemälde beiseite und sie gab ihm einige Euroscheine, von denen die meisten eine hellgrüne Farbe hatten.
Dann kam sie beschwingt auf ihn zu, hakte sich bei ihm ein und zog ihn mit sich. Sie war jetzt total aufgekratzt und freute sich über ihren Fund, wie ein Kind über ein Weihnachtgeschenk.
Es fühlte sich toll an, am Arm dieser schönen Frau über den Markt zu gehen. Und diesmal genoss Tim die unverhohlenen Blicke der Männer, die ihnen entgegenkamen.
Veronique führte ihn in ein kleines Bistro. Das
Chez Lousiette lag im Herzen des Marktes und Tim war begeistert. Das Lokal war selbst ein Sammelsurium an Antiquitäten. Die Weihnachtsdekoration mitten im Herbst erschien ihm ebenso bizarr wie perfekt. Ein Mann spielte Akkordeon und eine Frau sang dazu Lieder von Edith Piaf.
Sie nahmen ein zweites Frühstück zu sich und machten sich dann so gestärkt auf, um noch ein wenig weiterzubummeln.
Tim entdeckte einen Laden mit alten Fotoapparaten und Fotografien. Nun war er in seinem Element. Die Fotografie war schon seit frühester Jugend eine seiner Leidenschaften.
Fasziniert betrachtete er die alten Aufnahmen im Postkarten-Format aus den 20er und 30er Jahren. Veronique schaute ihm dabei über die Schulter.
Als er zu einem Kästchen mit erotischen, ja schon fast pornografischen Darstellungen kam, wollte er schnell zu einem anderen wechseln, doch sie hielt seine Hand fest.
„Magst du keine Erotik?“, fragte sie ihn leise.
„Doch, doch", gab er schnell zurück. "Warum sollte ich nicht?“ Er wollte ja nicht als prüde erscheinen. Was er auch gar nicht war.
„Wie gefällt dir dieses?“, fragte sie ihn, während sie mit einem ihrer manikürten und rot lackierten Fingernägel auf eines der Fotos tippte.
Das Foto war offensichtlich in einem Studio aufgenommen worden und zeigte eine junge Frau, die auf einem Bett lag. Sie hatte die Arme nach oben gestreckt und präsentierte so ihre unrasierten Achselhöhlen. Auch ihr Schoß, den sie sehr offen zur Schau stellte, war stark behaart. Einige Haare wuchsen sogar bis zu ihrem Bauchnabel und bedeckten die Innenseiten ihrer Schenkel.
„Ach ja, die guten alten Zeiten“, lachte Tim unsicher.
Veronique deutete mit ihrem Fingernagel direkt auf die Schambehaarung der Frau.
„Was ist damit? Magst du Haare da unten?“, insistierte sie.
Tim war verwirrt. Das leuchtende Rot stand in scharfem Kontrast zu dem Schwarzweiß der Fotografie. Wollte sie ihn testen?
Er mochte Intimbehaarung und hatte es immer ein wenig bedauert, dass Karin nicht darüber mit sich reden ließ.
„Das ist vielleicht ein bisschen zu viel des Guten“, antwortete er vorsichtig.
Sie ließ das Foto zurück in das Kästchen fallen und ging wortlos weiter.
Tim sah ihr nach. Noch verwirrter als zuvor.
„Hey, was ist los?“, fragte er, als er sie eingeholt hatte.
„Ach nichts", gab sie zurück und bedachte ihn mit einem Lächeln, das er nicht zu deuten vermochte.
"Geschmäcker sind eben unterschiedlich. Ich bin nicht so fürs Rasieren.“
Dann hakte sie sich wieder unter und sie gingen weiter.
Er wurde einfach nicht schlau aus dieser Frau.
Der Vormittag verging wie im Fluge. Es war bereits kurz nach zwei, als sie sagte, dass sie bald gehen müsse. Sie standen am Eingang zu einer schmalen Gasse, die zwischen den Läden hindurchführte.
Ohne Vorwarnung zog sie ihn in den engen Gang hinein und drückte ihn gegen das Mauerwerk.
Sie stand so dicht vor ihm, dass sich ihre Nasen fast berührten. Er spürte ihren warmen Atem auf seinen Lippen. Als er sich ganz langsam vorbeugte, um sie zu küssen, schloss sie die Augen und erwartete seine Berührung. Dann trafen sich ihre Lippen zu einem ersten Kuss. Schnell öffneten sich ihre Münder. Ihre Zungen fanden zueinander und umspielten sich in dem uralten Tanz der Leidenschaft. Immer drängender wurden ihre Küsse.
Dann löste sie sich sanft von ihm und trat einen Schritt zurück.
So standen sie sich gegenüber. Beide jeweils an die Wand hinter ihnen gelehnt und schwer atmend.
Schließlich sagte sie: „Kommst du am Abend zu mir zum Dinner?“
Es war eine Frage, klang aber eher wie eine Mischung aus Einladung und Anordnung.
Eine Aufforderung, die keinen Widerspruch dulden würde.
„Natürlich, sehr gern sogar“, antwortete er.
Sie strich sich das etwas verrutschte Kleid glatt und trat auf die Straße hinaus.
Eine alte Frau, die auf einem Schemel vor ihrem Laden gegenüber der schmalen Gasse saß, warf ihnen einen wissenden Blick zu.
Arm in Arm gingen sie in Richtung der Metro Station.
Dort angekommen, gab sie ihm ihre Adresse und einen letzten Kuss.
Dann ging sie.
Wieder sah Tim ihr nach. Doch auch diesmal ging sie davon, ohne sich noch einmal umzudrehen. Als sie um eine Straßenecke bog, drehte auch er sich um und ging die Stufen zum Bahnsteig hinunter.
Auf der Fahrt zu seinem Hotel dachte Tim an den bevorstehenden Abend.
Der Gedanke daran, mit ihr zu schlafen, erregte ihn so sehr, dass er in der Metro eine Erektion bekam, während draußen Paris - die Stadt der Liebe - vorbeizog.