Der Kreis schließt sich
Wie der Blitz schnellte ihre Fangmaske hervor und schnappte den Schwanz der Kaulquappe. Um nichts auf der Welt würde sie diesen Leckerbissen wieder loslassen. Dennoch zappelte der zukünftige Frosch, dessen Zukunft soeben besiegelt worden war, um sein Leben. Ungerührt begannen die Kauwerkzeuge damit, kleine Portionen aus dem frischen Fleisch herauszuschneiden und diese in ihr Maul zu führen.Sie brauchte dringend diese Proteine, diese große Energiezufuhr. Kleine Würmchen und Insektenlarven stillten ihren Hunger ebenso wie junge Fische, die jedoch nicht so leicht zu erlegen waren. Aber diese Kaulquappe würde ihre letzte submarine Mahlzeit sein.
In den letzten Tagen hatte sie eine Unruhe befallen, und ihre Hülle wurde langsam, aber sicher zu eng. Schon mehrere Male war sie aus ihrer Haut gefahren, sie hatte es nicht gezählt. Ihre Zeit unter Wasser jedoch war abgelaufen.
Eine Nacht noch. Verdauen und ruhen. Gut versteckt zwischen den Schilfstangen, um nicht im letzten Moment vom Gelbrandkäfer zerfleischt zu werden.
Bei den ersten Sonnenstrahlen machte sie sich auf den Weg in das fremde Element, das ihr zweites Zuhause werden sollte.
Schritt für Schritt kletterten die sechs Beine den wankenden Stängel entlang, zielstrebig zum Licht. Die Wasseroberfläche zu durchstoßen, war ein Kraftakt, doch sie gönnte sich keine Pause. Der gefährlichste Moment! Für jeden Fisch gut sichtbar gegen den Morgenhimmel. Für jeden Frosch und Reiher leicht zu fangen, da eine rasche Flucht unmöglich war. Ein Bein nach dem anderen zog sie ihren Körper wie in Zeitlupe aus dem saugenden, flüssigen Element, um keine verräterischen Wellen zu erzeugen.
Endlich! Mit einem unhörbaren, lediglich vorstellbaren Blubb entließ ihre nasse Heimat sie an die laue Sommerluft. Auch jetzt keine Pause. Sie musste höher, außerhalb der Reichweite ihrer Feinde. Durch die Langsamkeit der Bewegungen fast unsichtbar verschmolzen mit dem Schilfrohr.
Auch die Sonne stieg höher und mit ihr die Temperatur. Das steigerte wiederum die Beweglichkeit des Neuankömmlings.
Etwa einen halben Meter über der Wasseroberfläche fühlte sie sich sicher genug. Hier konnte sie ihre letzte Wandlung vollziehen.
Die Hülle über ihren Augen war matt geworden. Sonst hätte sie gesehen, dass sie nicht die einzige war, die die nasse Umgebung gegen die Luft tauschte.
Sie klammerte sich mit den hakenbewehrten Füßen fest an ihre ausgewählte Startrampe für das neue Leben. Dann dehnte und streckte und bog sie sich hin und her, bis die an der Luft erstarrende Haut am Rücken aufplatzte. Durch weitere Bewegungen, die ihr niemand beigebracht hatte, die aber seit Millionen von Jahren in ihre Gene geschrieben standen, glitt sie Millimeter für Millimeter immer weiter heraus. Ihr Kopf hing nach unten, die schimmernden Facettenaugen gewöhnten sich an die veränderten Sichtverhältnisse über Wasser. Stunden vergingen. Stunden, in denen sie absolut wehrlos war.
Erst im letzten Augenblick, als Beine und Hinterleib endlich befreit waren, klammerte sie sich an die alte, nur noch für Naturforscher nützliche Haut.
An der Rückseite ihres Torsos befanden sich sorgsam und platzsparend gepackte Knäuel, die sie nun in der wärmenden Sonne voll gelben Bluts pumpen würde. Mit jedem Atemzug entfalteten sie sich ein winzig kleines bisschen mehr.
Gut, dass sie gestern diesen großen Happen verspeist hatte. Sie brauchte jede Kalorie.
Das Himmelslicht stand schon beinahe im Zenit, als sie endlich ihre endgültige Form erreicht hatte: Eine golden schimmernde Gemeine Seejungfer mit durchsichtigen Flügeln war geboren. Die weibliche Ausgabe einer Prachtlibellenart.
Ihr männliches Gegenstück ist von glänzendem Dunkelblau. Die Flügel sind ebenfalls blau, weshalb sie von Amateuren, auch wegen des torkelnden Fluges, oft fälschlicherweise für Schmetterlinge gehalten werden.
Doch sie sind keine Nektarschlürfer - gefährliche Raubtiere sind sie! Kleinere Insekten werden gnadenlos verfolgt, geschnappt und vertilgt.
Die Flügel der Seejungferdame waren mittlerweile ausgehärtet und sie probierte sie in alle Richtungen aus. Als sie einen dunklen Schatten unter Wasser wahrnahm, verließ sie den Schilfhalm, an dem ihre Exuvie hing, rasch mit irreführendem Flügelschlag.
Sie gehörte nicht zu den Libellen, die geradlinig und rasant durch die Luft sausten. Ihre Beutetiere hielten sie für einen harmlosen Falter und beachteten sie deshalb leichtsinnigerweise nicht. Die Jungfer lauerte von einem gut gewählten Ansitz aus auf vorbeifliegende Beute und war nichtsdestotrotz erstaunlich schnell.
Ein bis zwei Wochen würde sie jagen, sich in der Sonne wärmen und vor hochschnellenden, gefräßigen Fröschen oder herabstoßenden Vögeln in Sicherheit bringen, bevor sie Interesse für die blauschillernden Männchen entwickeln würde.
Diese waren damit beschäftigt, ein Revier auszuwählen, das sie gegen andere Männchen verteidigten. Die Kämpfe wirkten wie ein torkelnder Tanz von blauflirrenden Flügeln, dennoch waren sie untereinander recht brutal und nur eine Jungferndame war willkommen.
Von ihrem Ansitz aus beobachtete die güldene Schönheit das scheinbare Durcheinander. Eine Mücke wimmelte vorbei, aber in der nächsten Sekunde hatte deren letztes Stündlein geschlagen. Die Jungfer war aprupt gestartet, hatte die Mücke geschnappt und war schon wieder auf ihrem Platz gelandet.
Genüßlich verspeiste sie den zappelnden Blutsauger, während ihre Augen nichts von dem Schauspiel der Männchen verpassten.
Einer der dunkelblauen Flieger war besonders wagemutig und verscheuchte jeden Angreifer. Dabei fand er aber immer noch genügend Zeit, Beute zu machen, um bei Kräften zu bleiben. Ihn hatte sie im Fokus. Das konnte der Vater ihrer Nachkommen werden. Mutig, stark, durchsetzungsfähig. Sein Revier schien ihr ideal. Pflanzen mit Schwimmblättern waren ein gutes Zeichen dafür, dass die Wasserstelle nicht trockenfiel, was für die Nachkommen fatal wäre. Schilfhalme, zwischen denen sich die Larven verstecken, aber auch Futter finden konnten.
Die Würfel waren gefallen. Die Mücke verspeist. Mit dieser blauen Schönheit wollte sie sich vereinigen, ihre Gene mischen, eine schöne und starke nächste Generation schaffen.
Gerade als sie zum Flug ansetzte, fiel jedoch ein schwarzer Schatten vom Himmel. Sofort brachte sie sich auf der Unterseite des Weidenblattes in Sicherheit.
Ihre seitlichen Augen beobachteten jedoch das Drama: Ein Baumfalke war in den taumelnden Tanz der Blauflügler gestoßen. In seinen Fängen hielt er bereits einen davon fest und verleibte ihn sich im Fluge ein. Bestimmt würde er gleich wiederkommen und sich noch weitere Leckerbissen holen.
Das romantische Tête-à-Tête musste warten, bis die Gefahr vorüber war. Wobei es bei Libellen ohnehin kein Tête-à-Tête gab, eher ein Queue-à-Tête.
Als endlich wieder Ruhe einkehrte, gab es etliche Konkurrenten weniger. Der auserwählte Bräutigam saß stolz auf seinem Ansitz.
Diese Begebenheit wischte die letzten Zweifel beiseite. Die goldschimmernde Schönheit reckte ihr Hinterteil in die Höhe, hüpfte flatternd auf und ab. Immer wieder zeigte sie wie suchend ihre Geschlechtsöffnung.
Mit scharfem Blick hatte das Männchen die lockenden Bewegungen schon längst wahrgenommen. Die glitzernden Flügel und der bereitwillig zuckende Hinterleib brachten ihn um den Verstand. Dieses Weibchen sollte ihm gehören - nur ihm!
Geschwind flatterte er zu dem verlockenden Weibe. Ohne langes Federlesen schob er die Zange an seinem Hinterleib zwischen ihren Kopf und Torso und umklammerte die Dame fest.
Ein Tandem bildeten die beiden prächtigen Libellen nun, flogen zu zweit von Ast zu Ast, von Blatt zu Blatt, bis sie einen geeigneten Platz für die Paarung gefunden hatten.
Ein Blutweiderich in voller Blüte sollte es sein. Ringsherum stand ein Wald von weiteren der pinkblühenden Stängeln der Sumpfstaude. So waren die Liebenden nicht leicht zu entdecken für Feinde, aber Beute für eine Zwischenmahlzeit war reichlich vorhanden.
Nicht zuletzt bot das Blütenmeer den passenden Rahmen für die an eine Yogaübung erinnernde Verrenkung, die dem Weibchen bevorstand.
Ihr Bräutigam hielt sie am Genick weiterhin fest umklammert, seine Beine sicherten das Gespann an der Pflanze.
Die goldschimmernde Jungfer zog ihre Bauchmuskeln an, so stark sie konnte, und beugte so ihren Hinterleib nach vorne zum Bauch ihres Partners.
Leichter Wind erschwerte dieses Manöver und sie musste erneut von vorne anfangen.
Endlich traf die weit geöffnete Spitze ihres Hinterleibs auf das wie pulsierend für sie bereithängende Spermienpaket.
Ein wunderschöner Anblick - dieses herzförmige Liebesspiel in gold und dunkelblau inmitten der pinken, leicht im Wind wogenden Blüten!
Einige Minuten blieben sie so verbunden, bis sich die Legescheide um die Spermien schloss und das Weibchen den Körper wieder entspannen konnte. Nun war sie bereit zur Eiablage, die nächste Generation in die Welt zu entlassen.
Kurz darauf löste der Blaugeflügelte seine Zange von ihrem Genick.
Manche Libellen vollführen die Eiablage im Tandemflug; so stellen die Männchen sicher, dass ihre eigenen Samenzellen Verwendung finden. Andere trennen sich direkt nach der Spermienübergabe und jeder fliegt seiner Wege.
Die männliche Seejungfer jedoch begleitete ihr Weibchen. Aufmerksam folgte er ihr zu seinem Revier, verscheuchte mit harten Attacken die Konkurrenten. Damit hörte er nicht auf, bis sie das letzte Ei platziert hatte. Das war seine Garantie dafür, dass die jungen Libellen von ihm abstammten und von keinem anderen.
Das Weibchen war erschöpft. Bei der letzten Landung verfehlte sie den Blattrand und landete rücklings im Wasser. Wild zappelnd versuchte sie, sich aufzurichten, griff mit ihren Beinen nach dem unerreichbaren Schwimmblatt. Es gelang ihr, die Flügel zu bewegen, aber nicht, sie von der Schwere der Oberflächenspannung zu befreien.
Ihre verzweifelten Bewegungen waren wie eine Morsenachricht an den Wasserläufer. Rasch kam er übers Wasser gehuscht, betastete und beroch die abgestürzte Jungfer. Ein leckeres Mahl! Vor der Eiablage wäre sie noch sättigender gewesen.
Er entschied sich jedoch gegen dieses Festmahl. Seine empfindlichen Füße hatten ihm mitgeteilt, dass sich ein Konkurrent nähert. Ein Konkurrent, gegen den es aussichtslos, ja sogar lebensgefährlich wäre zu kämpfen.
Schnell lief er davon und das keine Sekunde zu spät: Ein riesiges Maul schoss aus dem Wasser! Ein Frosch hatte sich wohl gedacht, doppelt abräumen zu können.
So schnappte dieser nach der ertrinkenden Schönheit. Seine Augen verschwanden beim Schlucken für einen Moment im breiten Schädel.
Und dann war es vorbei mit dem leicht torkelnden Flug über den Teich, dem Sonnenbaden und der Mückenjagd.
Der Kreis hatte sich geschlossen.
Copyright by Regina2, August 2021