Art at All
Teil 1/5Grimmige Augen glotzten ihn von allen Seiten her an. Aufgerissene Mäuler in schummrigem Licht. Verzerrte Gesichter, wohin man schaute. Dunkle, verschmierte Wände.
Als er in die viel gerühmte Bar 'Art at All' trat, musste er sich erst an das Zwielicht gewöhnen, denn draußen strahlte wieder die Sonne nach einem kurzen Regenschauer. Bunte Strahler an der hohen Decke verwirrten den Sehsinn zusätzlich. Schwere, dunkelrote Vorhänge sperrten das Tageslicht und vor allem neugierige Blicke aus. Heute war geschlossene Gesellschaft, und nur angemeldete Gäste durften in diese besondere Atmosphäre eintauchen.
Das Wummern des Electrobeats ging ihm durch Mark und Bein, als er sich mit unsicheren Schritten weiter ins Innere dieser scheinbar finsteren Höhle begab. Nur langsam erkannte er normale Menschen. Echte Menschen - mit freundlichen Gesichtern, die einander plaudernd zugewandt waren.
Er blieb stehen und sah sich um. Der Eingang befand sich offensichtlich in der Mitte eines bogenförmigen Schlauchs, der sich um das Fundament des weltberühmten Doms von Köln schmiegte.
Links die Theke der gemauerten Bar, hinter der geschäftig das Personal werkelte, und Sitzgelegenheiten.
Rechts die Tanzfläche, über der, erhöht wie in einer Kanzel, der DJ thronte und die Musik abmischte. Noch war es früh, kaum jemand tanzte, sodass er freien Blick auf das Ende des langgestreckten Raums hatte. Dort schienen sich die Waschräume und die Garderobe zu befinden - zumindest waren die grell bunten Wände dort hell erleuchtet.
Gregor hatte des unbeständigen Wetters wegen eine leichte Jacke übergezogen, die ihm schnell zu viel wurde in der vorherrschenden Wärme. Er begab sich deshalb an der DJ-Kanzel vorbei dorthin, wo er die Garderobe vermutete. Beim Näherkommen erkannte er, dass sich auch andere Gäste dort ihrer wärmenden Last entledigten. Ein junger Mann, mehr breit als hoch, nahm die Kleidungsstücke gegen einen kleinen Obolus entgegen und hängte sie auf nummerierte Bügel. Der Schweiß stand ihm auf der Stirn, und er schien unter Stress zu stehen. Nichtsdestotrotz hatte er für jeden Kunden ein freundliches Wort.
Bis Gregor an der Reihe war, blieb ihm ausreichend Zeit, die bemalten Wände zu bestaunen. Erst nach und nach konnte er an der einen Seite drei Türen ausmachen: Eine zur Personal-, die nächste zur Damen- und die hinterste zur Herrentoilette. Grimmige Fratzen mit einfacher Strichführung, wohin man nur sah, ohne dass eine wie die andere aussah. Als sich die mittlere Tür gleichzeitig auch an der gegenüberliegenden Wand öffnete, verstand Gregor, dass es sich dort um einen riesigen Spiegel handelte. Dies verstärkte den Effekt, dass man sich in einer Menschenmenge wähnte.
Scharfes, weißes Licht von der Decke ließ die Gesichter der Anwesenden fahl erscheinen und Falten deutlich hervortreten. Ohne deshalb durch ihre Natürlichkeit herauszustechen, fügten sie sich so in das große Gesamtkunstwerk der blassen Fratzen ein.
Jemand tippte an Gregors Schulter: "Möchtest du deine Jacke nicht abgeben?"
Gregor drehte sich rasch herum und blickte nach unten in die freundlichen Augen des Garderobiers. "Äh, ja, doch! Sorry, ich bin zum ersten Mal hier und total überwältigt von der Wirkung der Gemälde."
"Oh, das passiert den meisten. Hier deine Nummer für die Jacke, und viel Spaß!" Der junge Mann streckte Gregor ein Zettelchen entgegen. Der räumte diesen in sein ledernes Portemonnaie, bezahlte und und bedankte sich.
Als er wieder in die Dunkelheit trat, bemerkte er eine kleine, quadratische Bar in der Ecke und ließ sich ein eisgekühltes Bier in der Flasche geben, das er sogleich bezahlte. Seine Augen hatten sich bald an die veränderten Lichtverhältnisse gewöhnt und erspähten auf dem schwarzgrauen Boden Farbkleckse und scheinbar sinnlose Kritzeleien, die entfernt an eine Schatzkarte erinnerten. Als hätten sich Kinder mit dicken Pinseln ausgetobt, und niemand hätte hinterher saubergemacht. Sollte die breite, blaue Linie, die in unregelmäßigen Bögen verlief, den Rhein darstellen? Mit etwas Fantasie konnte man auch die Silhouette des Doms in weiß erahnen. Waren die Schmierereien also doch nicht so planlos?
Mit ein paar Schlucken aus der mit Kondenswasser benetzten grünen Bierflasche wappnete sich Gregor gegen die sich bildende schwüle Hitze in der Bar.
In der Hoffnung, seinen Sexappeal zu erhöhen, öffnete er die oberen zwei Knöpfe seines dunkelblauen Hemdes, das in einer ebenfalls dunkelblauen Jeans steckte. Er hatte letzten Monat seinen achtundvierzigsten Geburtstag gefeiert, wirkte wegen seiner Schlaksigkeit aber eher wie ein Siebzehnjähriger. Mit einem Meter neunzig war er größer als der Durchschnitt, aber egal, wie er sich ernährte - er kam nicht über fünfundsechzig Kilo Körpergewicht.
Die dunkelblonden Haare traten mit jedem Lebensjahr vermehrt den Rückzug an. Ein dichter Bart, der seine Aknenarben hätte verdecken können, wollte Gregor nicht gelingen.
Schon seit mehreren Jahren Single, hatte er sein Hobby zum Beruf gemacht: Er testete und entwickelte Computerspiele und entsprach damit in vielem dem gängigen Klischee eines Computernerds. Gregors Kindheitstraum war es gewesen, Jockey zu werden und er liebte Pferde über alles. Das Wachstum seines Körpers machte ihm allerdings einen Strich durch die Rechnung. Dennoch wollte er sich engagieren und den Reitsport revolutionieren, damit die Pferde nicht daran kaputt gingen. Er war jedoch von einflussreichen Personen gestoppt und aggressiv aus dem Pferdemillieu gemobbt worden. Seitdem mied er alles, was mit diesem Thema zu tun hatte.
Er ging nicht oft auf Partys, und wenn, dann hielt er sich eher schüchtern im Hintergrund, um die anderen Feiernden zu beobachten. Smalltalk zu betreiben, gehörte nicht zu seinen Stärken. Selten, dass sich ein Gespräch mit einer netten Frau ergab. Die meisten nahmen seinen Beruf unwissenderweise nicht ernst und hielten ihn für ein Spielkind.
Die einzige Verbindung, die Gregor zu seiner früheren Leidenschaft zuließ, war die Vorliebe für eine ganz bestimmte Frisur bei Frauen: Ein sauber geflochtener Fischgrätenzopf.
Die Gäste mehrten sich und standen mittlerweile auch am Rand der Tanzfläche verteilt. Pärchenweise oder in kleinen Gruppen plauderten sie, den ersten Cocktail oder Weinschorle in einer Hand balancierend. Die Outfits reichten bei den Männern von Anzug mit Krawatte über weite, weiße Hemden zu Kilts bis hin zu hautengen, glänzenden Latexanzügen. Die Frauen trugen schicke, einfarbige Sommerkleider ebenso wie edle Corsagen zu knappen Lederminiröcken. Einzelne Damen hatten Oberteile, die ihren bloßen Brüsten lediglich ein Rahmen boten. Gekonnt aufgetragene Schminke, leuchtend rote Lippen, aufwändig gestylte Haare - dem Auge des Betrachters wurde einiges geboten.
Gregor schlenderte zum vorderen Bereich der Lokalität, wo sich gemütliche Sitzmöbel unter antiken Kronleuchtern befanden. Dabei sah er sich die Gemälde an den Wänden der Tanzfläche aufmerksam an. Über farbbetropften Sitzen, deren Ursprung vielleicht ein Friseursalon war, thronten zwei menschliche Abbilder. Riesenhaft und die Genitalien überdimensional und verzerrt. Die Zähne wie gefletscht. Rot leuchteten die Herzen inmitten des grünlich angestrahlten Weiß.
Schließlich nahm Gregor Platz auf einem Sessel, der seiner schon lange verstorbenen Großmutter gehört haben könnte. Mit dem Unterschied, dass über die goldfarbene Sitzfläche und Lehne mit Schwarz eine Grimasse gesprayt worden war. Er erinnerte sich daran, was sich in dem Namen dieser Bar versteckte : 'Art at All' - ein Spiel der Buchstaben und nicht, wie es im Wörterbuch stand, 'Kunst überhaupt'. Nein - Kunst auf allem, und die beiden großen As symbolisierten die zwei Türme des Kölner Doms.
Gregor schmunzelte, stellte sein Bier auf den abgewetzten Tisch und machte es sich bequem. Schlug die Beine übereinander und verschränkte die Unterarme.
Elisabeth verdrehte die Augen. Sie beobachtete diesen mageren, stillen Mann schon eine Weile. Ein klassischer Fall von Muschel! Gibt sich cool und unbeteiligt, als ob ihm nichts und niemand etwas anhaben kann. Betrachtet voller, vielleicht auch nur geheucheltem, Interesse die Wandgestaltung dieser außergewöhnlichen Bar, in der sich jedes Jahr ein anderer Künstler austoben durfte.
Sitzt aber da wie ein Knoten, den niemand zu entwirren wagt. Betrachtet konzentriert die metallenen Lüftungsrohre unter der hohen Decke und wundert sich, wenn er den ganzen Abend kaum mehr sagt als 'Entschuldigung', 'Danke' und 'Bitte'. Dabei schlummern bestimmt interessante Facetten in diesem Menschen, die er erfolgreich verbirgt.
Seit drei Jahren arbeitete sie schon an der langen Theke dieser Location. Nahm die Bestellungen auf, füllte Gläser, mixte Cocktails, nahm die Bezahlung entgegen und - beobachtete die Gäste. Sie hätte Geschichten schreiben können ebenso wie eine psychologische Analyse der verschiedenen Typen. Sie war jedoch weder Schriftstellerin noch Psychologin, dafür aber immer aufmerksam und interessiert.
Heute hatte sie nur eine kurze Schicht. Ab zweiundzwanzig Uhr stand es ihr frei, nach Hause zu gehen oder noch ein bisschen zu feiern. Sie würde den verschlungenen Knoten auf dem goldenen Sessel im Blick behalten. Er hatte irgendwas an sich, das in ihr etwas zum Klingen brachte. Sie hätte aber nicht sagen können, was genau es war. Vielleicht würde sie es später herausfinden.
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