Märchenhaft
Teil 1/3Eine Krümelspur wollte er für sie auslegen, damit sie zu ihm fand. Wie bei Hänsel und Gretel. Nur dass es in diesem Märchen keine Hexe gab. Oder sollte sie die Hexe geben? Sie schmunzelte vor sich hin.
Zauberkräfte und hellseherische Fähigkeiten wären gerade passend. Nach zermürbender Parkplatzsuche hatte sie sich offensichtlich in dem Viertel, in dem er wohnte, verlaufen. Oder doch nicht? Die Hausnummern waren nach einer Logik vergeben, die sie nicht nachvollziehen konnte. Wie hatte er gesagt? Der Hauseingang war auf der Rückseite?
Mit Mühe entzifferte sie in der Dunkelheit das Hinweisschild. 'Kann mal jemand das Licht anschalten?', rief sie stumm ihren nicht existenten Untergebenen zu. Viel zu weit oben und die Zahlen viel zu klein - aber es sah schon sehr nach '62 - 66' aus.
Sie stieß die Luft genervt aus; langsam wurde ihr kalt. Warum hatte sie sich auch auf dieses Spiel eingelassen? Weil er so nett klang am Telefon? Weil er ihr ein Verwöhnprogramm versprochen hatte? Weil sie sich so sehr nach fremder Haut sehnte?
Vor der Hausnummer 66 blieb sie stehen, studierte die Namen der Bewohner. Wenigstens gab es nur einen Müller! Erleichtert drückte sie auf die Klingel, und nur wenige Sekunden später summte der Öffner. Jetzt noch in den dritten Stock hochsteigen - vielleicht würde ihr dann wenigstens warm? Laut hallten die Absätze im Treppenhaus, und sie verfluchte sich, dass sie nicht Schuhe mit weichen Sohlen angezogen hatte. Sie stellte sich vor, wie neugierige Augen hinter den Spionen klebten und sie beobachteten.
Als sie die zweiundvierzig Stufen erklommen hatte, sah sie die Wohnungstür, die nur angelehnt war. Vorsichtig schob sie sie auf. Auf dem Fußboden entdeckte sie in dem gedämpften Licht einzelne Kleidungsstücke, die wie bei einer Perlenkette aufgereiht den Weg zu einer weiteren angelehnten Tür beschrieben.
Das war also die Krümelspur. In das Hexenhaus? In die Höhle des Löwen? Oder ins Liebesnest?
Ins Liebesnest eines Löwen, wie sich später herausstellte …
Nachdem sie eingetreten war, schloss sie die Tür hinter sich, streifte Mantel und Schuhe ab. Ein kurzes Zögern - sollte sie die Krümel aufsammeln? Hatten sie eine Bedeutung? Brauchten sie sie? Sie kicherte. So weit kommt's noch! Sie wird ihm doch nicht die Wohnung aufräumen!
Amüsiert trippelte sie an dem Turnschuh, den Socken, dem zusammengeknüllten T-Shirt und dem karierten Halstuch vorbei und stupste die Schlafzimmertür auf. Dort sah sie einen Slip als letzten Hinweis vor dem mit hellgrauem Stoff bezogenen Boxspringbett.
Hans lag auf der Seite. Die Decke bis zur Brust hinaufgezogen, hatte er vor sich Platz gelassen, damit sie sich zu ihm legen konnte.
Greta blieb jedoch stehen. Betrachtete den Fremden. Ein kleines Lächeln lag auf seinen Lippen, in seinen Augen jedoch loderte ein Feuer. Ein Feuer, das ihr verriet, dass er sich nur schwer im Zaum hielt. Dass er es nur mit Mühe schaffte, ruhig liegenzubleiben, statt die Decke zurückzuschlagen und über sie herzufallen.
Ein Fremder mit demselben altbekannten Hunger, der auch sie umtrieb.
"Wie sieht es denn bei dir aus? Lässt du immer deine Klamotten auf dem Boden rumliegen?" Der Schalk, der ihr aus den Augen blitzte, strafte ihre strenge Stimme Lügen.
"Nur, wenn ich Damenbesuch bekomme", gab Hans grinsend zur Antwort.
"Nun, dein Liebesnest ist ja auch wirklich schwer zu finden." Sie nickte bedächtig.
Er klopfte mit einer Hand auf die freie Liegefläche neben sich. "Komm!"
Greta blieb jedoch noch stehen. Sie taxierte das Bett. Es war fast hüfthoch und sie mochte diese Art Liegestatt nicht besonders. Sie trat näher heran und stützte sich auf der Matratze ab. Ihre Hände sanken unerwartet tief ein, sodass sie sich wunderte: "Ist das ein Wasserbett?"
Hans' lüsternes Lächeln sprach Bände, er schüttelte aber den Kopf. "Nein. Magst du Wasserbetten?"
"Nein", sagte Greta und entschied sich für ein Wortspiel. "Ich mag Betten wässern!"
Er lachte. "Dann bist du hier genau richtig."
Sie sah ihn unter ihren langen Wimpern hervor lasziv an und ließ ein gefährliches "Grrrr" hören, während sie neben ihn kletterte.
Noch blieb sie auf Abstand. Legte sich wie er auf die Seite. Spiegelte seine Haltung. Roch sein angenehmes Parfum. Er beugte sich langsam zu ihr und fragte: "Magst du küssen?"
"Sehr." Sie wich ihm nicht aus, leckte sich über die Lippen. Ihr Mund war trocken geworden von dem Feuer, das auch sie verzehrte.
Hauchzart küsste Hans sie zunächst. "Mmmh."
"Mmmeeehr!", raunte Greta.
Wieder und wieder fanden sich ihre Münder, spielten miteinander, öffneten sich, luden die Zunge des anderen ein. Vorsichtig noch wagten diese sich in die fremden Höhlen. Mutiger werdend loteten sie die Tiefen und Untiefen aus.
Copyright by Regina2, November 2021