Hoher Besuch
.
Meine Liebe! Heute bekommen wir Besuch zum Essen. Du bist ein wenig nervös. Nicht, weil du Zweifel an deiner Kochkunst hast - nein! Im Gegenteil. Heute kommt dein älterer Bruder, der in Deutschland lebt, mit seiner deutschen Frau zu uns.
Sie scheint offen für die tunesische Küche zu sein und hat keine Furcht vor der typischen Schärfe.
Vor zwei Tagen hatten wir im Garten deiner Eltern ein Lamm geschlachtet. Sie sah neugierig dabei zu, machte Fotos und half ohne Scheu, wo sie konnte.
Wir Männer hängten den größtenteils entbluteten Tierleib auf, häuteten und zerteilten ihn. Ließen die Innereien in eine große Schüssel gleiten.
Um die kümmern sich immer die Frauen. Du hacktest die frische Leber und Petersilie klein. Das wurde später mit weiteren Zutaten in die ausgewaschenen Därme gefüllt und wie Würste in Wasser gekocht. Anschließend wurden diese im Ofen gebräunt und als Osban mit Couscous oder Reis serviert. Das mag nicht jeder, aber auch das probierte deine fremde Schwägerin.
Also, meine geliebte Frau, entspann dich! Mach alles wie sonst auch.
Wenn ich Zeit habe, sitze ich bei dir in der Küche und sehe dir zu. Bewundere deine natürliche Anmut. Genieße deine Stimme, die sinnverwirrend leise um meine Ohren wehen kann, sodass es schon fast egal ist, was du sagst; Hauptsache, du sprichst mit mir.
Die gleiche Stimme, die zuweilen deine frechen Neffen kurz und knapp in die Schranken weist.
Du trägst wie meist eine Djellaba. Oft bist du nackt darunter, und meine Hand findet es nur zu gerne heraus, ob dem so ist.
Nun platzierst du ein dickes Holzbrett und ein scharfes Messer vor mir auf den Tisch.
"Magst du ein paar Tränen für mich weinen?" Du lächelst mich schelmisch an und streckst mir zwei Zwiebeln entgegen.
"Du bist die einzige, für die ich je weinen werde!" Ich halte in jeder Hand eine Zwiebel. Rotbraun, rund und hart sind sie. Trotzdem erinnern sie mich an deine wundervollen Brüste. Wie deren Knospen mich herausfordern - fast wie die oberen Spitzen dieses scharfen Gemüses. Rasch schneide ich sie ab, bevor ich auf dumme Gedanken komme. Dann pelle ich die trocken knisternde äußere Schicht vom Fruchtkörper und hacke ihn in feine Würfel.
In der Zeit, in der ich meine Gedanken von den Erinnerungen an deinen lustvollen Körper zurückrufen muss, hast du bereits Olivenöl in einem tiefen Topf erhitzt. Kaltgepresstes Öl von den Oliven der alten, krummgewachsenen Bäume auf den Feldern meiner Eltern. Ganze 24 Meter Abstand müssen zwischen den Pflanzen eingehalten werden, damit sie überleben - hier, am Rande der Wüste.
Nun gibst du einige schöne Fleischstücke aus der Lammkeule in das Kochgefäß und brätst sie an. Während sich die Röstaromen bilden, streust du Salz und zerstoßene Pfefferkörner aus dem Messingmörser darüber.
Ich beobachte deine flinken Bewegungen. Wie du mit dem langstieligen Holzlöffel das Lammfleisch wendest. Deine Vertieftheit rührt mich immer wieder von Neuem.
Endlich drehst du dich wieder zu mir. Tränen, die meine Sicht verschleiern, bereiten dir Freude. Nicht, weil du eine kleine Sadistin bist. Oder doch? Nun, ich nehme an, weil du nun die gehackten Zwiebeln brauchst!
Sogleich küsst du mir die salzigen Perlen von den Wangen und befreist mich von der Qual der ätherischen Öle.
Nachdem die Folterwürfelchen zischend im Topf gelandet sind, spülst du das Brett und das Messer ab und legst es wiederum vor mich auf den Tisch.
Während du ein wenig Wasser, eine ausgewachsene Portion Tomatenmark und Harissa zu den Zwiebeln und dem Fleisch gibst und ständig rührst, nehme ich mir die Knoblauchzehen vor.
Harissa. Deine Schwägerin aus Deutschland findet den Namen hübsch. Vermutlich, weil es sich mit dem französischen bestimmten Artikel wie ein Mädchenname anhört: L'harissa.
Diese Gewürzpaste aus frischen Chilis, Kreuzkümmel, Koriandersamen, Knoblauch, Salz und Olivenöl, die wir Tunesier schon zum Frühstück verspeisen, hat es ihr angetan. Man kann die Paste auf dem Markt frisch kaufen, aber als Mitbringsel in die ferne Heimat sind wohl Tuben oder Konservendosen besser geeignet.
Mittlerweile habe ich die vier würzenden Zehen in mikroskopisch kleine Stückchen verarbeitet, beobachte, wie du fleißig rührend darauf achtest, dass das Tomatenmark nicht anbrennt. Dann gibst du mit einer flinken Bewegung den Knoblauch hinzu, ebenso wie einen gehäuften Kaffeelöffel Ras el Hanout. Von dieser Mischung aus Gewürzen haben wir bereits eine Dose abgefüllt für deinen Bruder und seine Frau.
Meine Gedanken schweifen ab. Ich hatte mit zwei deiner Brüder auf der Terrasse Karten gespielt. Du sortiertest mit deiner Mutter und der Schwägerin Ästchen und winzige Steine mit scharfem Auge aus den frisch vom Markt gekauften Gewürzen. Ihr saßt im Schatten des Maulbeerbaums auf Schaffellen, jeder eine flache Schale auf den Schenkeln. Die frei herumlaufenden Hühner waren neugierig und hätten am liebsten geholfen. Deine Mutter aber verscheuchte sie mit Händeklatschen. Laut gackernd liefen sie davon, um sich wenig später von einer anderen Seite heranzupirschen.
Fenchel, Kreuzkümmel, Nelken, Koriandersaat und getrockneter Thymian müssen so gereinigt werden. Später kommt noch getrockneter Ingwer, Kurkuma, Anis, Zimt und Muskatnuss dazu, bevor wir die Mischung in der Dorfmühle mahlen lassen.
Ich verlor haushoch im Kartenspiel, denn in meiner Fantasie lag mein Haupt anstelle der Schale auf deine Beinen gebettet. Deine flinken Finger kraulten durch meine dichten, schwarzen Haare - wie auf spielerischer Suche nach Fremdkörpern. Diese zärtliche Kopfmassage lässt mich vor Genuss erschauern. Manchmal schlafe ich dabei sogar ein, während ich den Duft deines Schoßes ein- und ausatme ...
"Habibi! Wo bleiben die Kartoffeln und Möhren? Träumst du?" Mit in die Hüften gestemmten Händen stehst du vor mir und siehst mich vorwurfsvoll an.
Hier in unserer Küche kann ich in aller Seelenruhe dein Sklave sein. Hier, wo es niemand sieht. Ich werfe dir einen Luftkuss zu und schäle so schnell ich kann die vier mittelgroßen Kartoffeln und die zwei Möhren.
Du verdrehst die Augen. Seufzt: "Männer!"
Die gewaschene Zucchini darf so wie sie ist in den Topf. Nachdem das Gemüse ebenfalls in der Tiefe verschwunden ist, lässt du einige getrocknete Lorbeerblätter hinterherflattern und füllst Wasser auf.
Nun haben wir Zeit. Du legst den Topfdeckel schräg auf den Topf, damit Flüssigkeit verdunsten kann. Eine halbe Stunde etwa. Dann musst du Fleisch und Gemüse herausnehmen und warmstellen, damit die Sauce weiter einkochen kann.
Am liebsten wäre mir jetzt, dass du dich direkt rittlings auf meinen Schoß setzt - meine Sehnsucht nach deiner Nähe ist größer als alles Vergleichbare, was mir gerade einfällt!
Das würde uns aber der Monoblocstuhl nicht verzeihen. Er würde schlagartig seine Plastikbeine in alle vier Himmelsrichtungen strecken, und wir fänden uns auf dem Boden wieder.
Deshalb stehe ich auf und nehme dich an der Hand. Deine Augen sagen mir, dass dich dieselbe Sehnsucht plagt.
Auf dem Weg zum Schlafzimmer greifst du dir den Kurzzeitwecker und stellst 30 Minuten ein. Oh, wie gut, dass wenigstens einer von uns noch vernünftig denken kann!
Nur schwer lösen wir uns später voneinander, als das schrille Klingeln ertönt. Wehmütig verfolge ich, wie du deine Djellaba über den Kopf wirfst, und der weiche Stoff den geliebten Körper Zentimeter um Zentimeter wieder verhüllt.
Ich schlüpfe auch rasch in meine Short und das T-Shirt und begleite dich in die Küche. Wissend, wie ungern du Dosen öffnest, übernehme ich das für dich und schütte die Kichererbsen in ein Sieb, um sie abtropfen zu lassen.
Du lässt den Kochlöffel seines Amtes walten und gibst anschließend die süßlichen Hülsenfrüchte, die wie geschälte Haselnüsse anmuten, in die Soße.
Dann nimmst du den an der Unterseite gelochten Topfaufsatz und füllst vier Tassen Coucous hinein. Du bespritzt ihn mit ein wenig Wasser, bevor du den Aufsatz über der weiterhin köchelnden Soße auf den Topf setzt. Nun muss der aufsteigende Dampf die Kügelchen von etwa einem Millimeter Durchmesser aus Hartweizengrieß durchdringen und garen. Das dauert ungefähr eine Viertelstunde, die wir nutzen werden, uns umzuziehen und den Tisch auf der Terrasse zu decken.
Wir nehmen das traditionelle Geschirr, das wir zu unserer Hochzeit geschenkt bekommen haben. Dunkelgelb mit schwarzen, grünen und roten Verzierungen. In die passende, große Porzellanschüssel füllen wir den weichen, hellgelben Couscous. Darüber kommt ein Teil der dampfenden, braunroten Soße, und du verteilst das Gemüse und das sich vom Knochen lösende Fleisch appetitlich darauf. Den Rest der Soße gibst du in eine Schüssel, die ebenfalls zu dem Service passt.
Zwei frische Baguettes gehören noch auf den Tisch. Wir werden ohne Besteck essen, da ist ein Stück Brot sehr hilfreich.
Auf einmal schlägst du die Hände über dem Kopf zusammen: "Wir haben die Wassermelone vergessen!"
Ich lache. "Allahu akbar! Die schlachte ich nach dem Essen zusammen mit deinem Bruder, während du den Mokka kochst."
Und da klingelt es schon an der Haustür ...
Djellaba: "Traditioneller, bodenlanger, die Körperkonturen weitgehend verbergender Überwurfmantel. Ursprünglich für Männer. Erst Mitte/Ende 20. Jh. in feinerer Verarbeitung und aus dünneren Stoffen in Gebrauch von Frauen als Haus- und Festgewand." (Auszugsweise Wikipedia)
Habibi: arabisch für "mein Geliebter", "mein Schatz"
Allahu akbar: arabisch für "Gott ist groß"
Copyright by Regina2, Januar 2022