Who's got the silverspoon?
Teil 1/5Die Fahrt zog sich. Die Autobahnen waren komplett verstopft, weswegen ich den Weg über die Bundesstraße gewählt hatte. Aber ob ich dort wirklich schneller vorankommen würde? Es schien geradezu so, als ob mir jede Ampel auflauerte und schnell auf Rot umschaltete, sobald ich näherkam. Hinzu die Busse, die nicht immer eine Haltebucht hatten und durch ihre Stopps den Verkehr aufhielten.
Eine Stunde Fahrtzeit hatte ich sowieso eingerechnet für die knapp vierzig Kilometer, und dennoch zeigte meine Navigationsapp an, dass ich fünf Minuten Verspätung haben würde. Fünf Minuten sind nicht viel, aber da ich selber es hasse, auf jemanden zu warten, vermeide ich es nach Möglichkeit auch, andere warten zu lassen.
Ich vertrieb mir die Zeit in diesem zähen, blechernen Fluss, indem ich Stimmübungen machte. Zwar hatte ich an diesem Abend keinen Auftritt, aber Training tut immer gut. Außerdem war ich verabredet mit der neuen Stimme für meine Gruppe von Vorlesern. Wir würden zusammen essen und anschließend einen ausgewählten Text laut lesen - zur Probe.
An einem Kreisverkehr übersah ich um ein Haar laut jodelnd einen Fahrradfahrer, der sich rechts an mir vorbeidrängeln wollte.
Erleichtert gab ich Vollgas, als ich für die letzten zehn Kilometer auf eine relativ freie Autobahn auffuhr. Die fünf Minuten Verspätung schaffte ich immerhin, auf vier zu reduzieren, was aber immer noch eine Verspätung blieb.
Auf dem Parkplatz sah ich ihn gleich: Den Inhaber der neuen Stimme. Groß, breite Schultern, schwarze Lederjacke. Die langen Haare trug er offen, ein sympathisches Lächeln teilte seinen Vollbart. Ich hatte ihn vor ein paar Wochen auf einer Party kennengelernt. Seine ausdrucksstarke, männliche Stimme hatte es mir sofort angetan, und als ich ihn fragte, ob er gerne erotische Geschichten vor Publikum vorlesen würde, war er sehr interessiert. Nun kam Falk zu meinem Auto geeilt und half mir gentlemanlike beim Aussteigen.
Bis zu dem Restaurant, das er ausgesucht hatte, hatten wir noch eine Strecke von etwa zehn Minuten zu gehen, während der wir uns angeregt unterhielten. Galant wärmte er meine Hände in den seinen und flirtete mit mir.
Der für uns reservierte Tisch stand ein wenig abseits von den anderen, durch Blumenkübel auf der einen Seite sichtgeschützt. An der anderen Seite befand sich jedoch eine Glasfront zur Fußgängerzone hin. Also nur eine scheinbare Intimität.
Wir legten unsere Jacken ab und nahmen an den gegenüberliegenden Seiten des kleinen Tisches aus dunklem Holz Platz.
Die Bedienung, eine junge Frau mit schwarzem, lockigem Haar, das in einem dicken Pferdeschwanz gebändigt war, war rasch zur Stelle und fragte nach unseren Wünschen. Dabei bemerkte ich, wie ihr Blick immer wieder den meinen suchte.
Kannten wir uns? Ich konnte mich selbst nach intensivem Überlegen nicht an sie erinnern.
Einen Aperitif nahm ich nicht, da ich noch Auto fahren musste, aber ich brauchte etwas anderes. "Eine Latte, bitte."
"Eine Latte macchiato? Gerne. Und der Herr?" Die Bedienung wandte sich fragend an Falk, der mich frech angrinste.
"Bringen sie mir eine Flasche Wasser, bitte. Und ich habe einen Riesenhunger - ein gemischter Teller mit Antipasti wäre toll."
"Kommt sofort", erwiderte die junge Dame, legte die Speisekarten auf unseren Tisch und eilte zur Theke.
Breit lächelnd raunte Falk mir zu: "Eine Latte kannst du auch von mir haben …"
"Angeber. Ich nehme meine Latte doch nicht mit Sahne, sondern mit aufgeschäumter Milch", wehrte ich sein Angebot ab.
"Aha. Geschüttelt, nicht gerührt."
"Und ohne Olive."
Wir lachten beide und widmeten uns dann der Auswahl der Speisen. Rasch wurde uns das Wasser und der Kaffee serviert, und wir stießen albern miteinander an. Als ich das dickwandige Glas wieder auf die Untertasse stellte, bemerkte ich, dass der darauf liegende langstielige Löffel kein üblicher Löffel war. Eine fein zieselierte Ranke wand sich um den Stiel und der Glanz des Metalls deutete darauf hin, dass es sich um einen Silberlöffel handelte. Ein Blick auf die Rückseite des Stiels bestätigte meine Annahme.
Falk und ich hatten beide Lust auf ein überbackenes Gericht. Er entschied sich für Tripasti al forno, ich wählte Lasagne.
Als die schwarzhaarige Bedienung den Vorspeisenteller brachte, konnte sie unsere Bestellung direkt aufnehmen.
Voller Appetit machten wir uns über das gegrillte Gemüse, das Bruschetta und die Mozzarellascheiben her. Mit ölverschmierten Mündern plauderten wir munter über alle möglichen Themen, wobei Falk immer wieder versuchte, mehr über meine sexuellen Vorlieben zu erfahren.
Ich neckte ihn jedoch und machte nur geheimnisvolle Andeutungen. Reizte ihn, indem ich meine Lippen lasziv ableckte. Schließlich wurde es mir aber zu bunt, und ich streifte meine Stiefelette ab. Langsam hob ich das Bein und schob meinen Fuß zwischen Falks Schenkel. Wie nahezu alle Männer hatte er sie gespreizt und lud mich geradezu ein, etwas Unanständiges zu tun. Als ich fest gegen seinen Schritt drückte, merkte ich, dass sein Penis bereits halb erigiert war. Falk riss die Augen weit auf, sein Mund blieb offen stehen und die Gabel mit der Olive verharrte reglos in der Luft.
"Was ist los? Keinen Appetit mehr?" Scheinheilig legte ich den Kopf schräg.
"Äh - ja. Ich meine - nein! Sehr sogar!" Er wollte das Besteck ablegen und nach meinem Knöchel greifen.
"Lass die Hände auf dem Tisch!" Ernst sah ich ihn an. Wenn wir hier spielten, dann nach meinen Regeln.
Unsere Blicke fochten einen Machtkampf aus. Mir war bewusst, dass ich in ein Wespennest gestochen hatte. Falk schimpfte sich dominant - ob er wohl jetzt dem Genuss zuliebe nachgab?
Er griff blitzschnell unter den Tisch - aber ich war schneller: Mein Fuß war schon unter meinen Stuhl zurückgekehrt und suchte nach dem Stiefelchen. Leider war ich mit meinem Knie von unten gegen die Tischplatte gestoßen, und Falks Wasserflasche taumelte einen gefährlichen Tanz.
Sogleich erschien die Bedienung neben uns und fragte, ob alles in Ordnung sei. Dabei schaute sie jedoch nur mich an. Fest hatte sie ihre nahezu schwarzen Augen auf mich gerichtet, als wolle sie mir etwas Bedeutsames sagen.
Ich versicherte ihr, dass ich alles im Griff habe, woraufhin sie uns versprach, dass das Essen jeden Moment fertig sei.
"So, so. Du hast alles im Griff." Falk schmunzelte. "Warum spüre ich gar nichts davon?"
Ich streckte meine Hand wortlos aus und legte sie sacht um das mittlerweile leere Glas der Latte macchiato. Dann fuhr ich mit den Fingerspitzen langsam an den glatten Wänden auf und ab.
"Du verspottest mich. Warte nur." Falk hob gespielt tadelnd seinen Zeigefinger.
Als Antwort grinste ich nur und zuckte mit den Schultern.
Erneut tauchte die Schwarzhaarige neben dem Tisch auf und räumte den Vorspeisenteller ab. Falk und ich bestellten beide Cola, was uns auch rasch gebracht wurde. Wieder stießen wir miteinander an, dabei sahen wir uns provokant tief in die Augen.
Nur wenige Minuten später wurden die feuerfesten Schalen mit ihrem dampfenden und würzig duftenden Inhalt serviert.
Als ich mit meinem Löffel die Käseschicht durchstoßen wollte, nahm ich wieder diesen besonderen Glanz wahr. Auch diesen Löffelstiel zierte eine Ranke, und ein kurzer Blick auf die Rückseite offenbarte, dass es sich ebenfalls um einen Silberlöffel handelte. Das gefiel mir, denn Silberbesteck wird in Gastrobetrieben eher selten eingesetzt.
Ich öffnete den Mund, um darüber einen Kommentar abzugeben, als mir auffiel, dass Falk einen ganz normalen, schmucklosen Edelstahllöffel benutzte.
Falk hatte bemerkt, dass meine Aufmerksamkeit von unserem Besteck gefangen war.
"Was ist los? Möchtest du lieber mit Messer und Gabel essen?"
"Nein, schon gut. Lasagne verspeise ich lieber mit dem Löffel. Mir ist nur aufgefallen, dass ich mit einem standesgemäßen Silberlöffel esse und du mit einem normalen."
Verblüfft besah Falk sich sein Besteckteil genauer und konnte nur feststellen, dass ich Recht hatte.
Ich lächelte ihn an. "So, wie es sich gehört."
In Falk kämpften offensichtlich zwei Seelen. Würde er sich scheinbar gleichgültig geben - es ist ja schließlich nur ein Löffel? Oder würde er darauf bestehen, ebenfalls einen Silberlöffel zu bekommen - was irgendwie kindisch wäre?
Er grinste zurück. "Offensichtlich hat dich hier jemand ins Herz geschlossen …"
Ich lachte verlegen. Das war natürlich auch eine Möglichkeit - so wie die Bedienung mich immer ansah.
"Wer tut das nicht?", gab ich mich unbeteiligt.
"Wetten, sie würde dich am liebsten nach deiner Nummer fragen!"
"Fragen darf sie."
"Wirst du sie ihr geben?" Falk schaute mich abwartend an.
"Wozu?" Ich zuckte die Schultern.
"Wer weiß? Vielleicht kommst du auf den Geschmack …"
"Apropos Geschmack - die Lasagne könnte ruhig etwas schärfer sein", versuchte ich abzulenken.
"Reicht doch, wenn SIE scharf auf dich ist!" Er deutete mit dem Kopf zur Theke.
Ich zwang mich, nicht hinzuschauen, und wandte mich stattdessen meiner halb leeren Schale zu. Eine junge Frau scharf auf mich? Zugegeben - mit meiner knallroten Bluse und den dazu passenden Pumps zu einer schwarzen Hose war ich nicht gerade unauffällig gekleidet. Obendrein der leuchtend rote Lippenstift, die dunkelrot, fast schwarz lackierten Fingernägel. Das fanden schon genug Männer zum Niederknien - aber eine Frau? Andererseits - was mir selbst im Spiegel gefiel - warum sollte das nicht auch einer anderen Frau gefallen?
Ich habe keine Berührungsängste. Geschlechtsgenossinnen gehören nicht zu meinem Beuteschema, aber wenn sie meiner Lust förderlich sein wollen, nehme ich das gerne an.
Nachdem wir unser Essen beendet hatten, tupften wir die Tomatensauce von den Lippen, und Falk fragte: "Einen Espresso zum Verdauen?"
Ich nickte. "Gute Idee. Dann können wir uns endlich der Lektüre widmen."
"Due Espressi!", rief Falk der Bedienung zu. Es war schon fast unheimlich, wie schnell sie immer zur Stelle war, obwohl das Restaurant mittlerweile gut besucht war.
Mit den Worten: "Kommt sofort!", räumte sie die Ofenschalen vom Tisch.
Ich stand auf und ließ meinen schweren, lederbezogenen Stuhl von Falk auf seine Seite des Tisches stellen. So konnten wir nebeneinander sitzen und gemeinsam den Text von meinem Tablet ablesen.
Als der Kaffee serviert wurde, erwartete ich schon fast, dass sich bei meiner Tasse wieder ein Silberlöffel finden würde. Und es war auch so. Die schwarzhaarige Frau achtete peinlich darauf, dass ich genau dieses Gedeck bekam.
Ich dankte ihr freundlich, schenkte ihr aber sonst keine weitere Aufmerksamkeit. Diesmal bemerkte Falk das Detail gleich und kicherte sich ins Fäustchen.
Eigentlich brauchte ich gar keinen Löffel, da ich Espresso nur pur trinke. Ganz abgesehen davon war in dem kleinen Tässchen auch nur ein winziger, tiefschwarzer Schluck konzentrierten Kaffees, den ich direkt zu mir nahm. Ich ließ die bittere Schwärze meinen Mund erobern und genoss das Aroma dieser italienischen Köstlichkeit.
Endlich konnten wir loslegen. Ich gab Falk noch ein paar Tipps, wie er dem Text Leben einhauchen konnte, und dann begannen wir. Nicht in einer Lautstärke, die alle Gäste erreichte, denn das war nicht unser Ziel. Wir variierten, gingen mit der Stimme hoch und runter, stockten, wenn unsere Protagonisten es taten. Fühlten deren Aufregung genauso wie die mehr oder weniger subtile Erotik, die die gesamte Geschichte beherrschte.
Gelegentlich strich Falk mit seinem Finger über meine Flanke, während ich las, und nicht immer waren meine Seufzer genau passend zu der jeweiligen Textstelle.
Wenn Falk bei einer Textstelle unsicher war, las ich ihm den Satz auf meine Art vor. Um ihn zu inspirieren und ihm Mut zu machen, nicht damit er es genauso betonen sollte wie ich.
Nach etwa einer halben Stunde waren wir fertig. Wir hatten Mühe, wieder aus unseren Rollen aufzutauchen - zu sehr hatte uns die geschriebene Wollust in ihren Bann gezogen.
Falks Mund näherte sich meinem Ohr und er raunte: "Rate mal, wer die ganze Zeit um uns herumgeschlichen ist und gelauscht hat!"
Ich hatte beim Lesen meine Verehrerin komplett vergessen und lachte lediglich.
"Du hast das heute schon sehr gut gemacht. Am besten gehst du den Text noch ein paarmal durch, bevor wir damit vor das Publikum treten."
"Danke", sagte Falk darauf. "Es ist gar nicht so einfach als Anfänger, aber es macht mir echt Spaß, mich auf die Rolle einzulassen."
"Ja! Und die Zuhörer lieben es!"
Ich schaltete mein Tablet aus. "Wollen wir bezahlen? Ich muss langsam los."
Falk sah mich neugierig an. "Ach ja - du gehst ja noch auf diesen BDSM-Stammtisch."
"Ja, ich freue mich sehr darauf, dort alte Bekannte nach langer Zeit wiederzutreffen."
"Darf ich dich begleiten? So ein Stammtisch interessiert mich sehr!"
"Hm. Das geht nur mit Voranmeldung. Die Plätze dort sind immer recht schnell ausverkauft."
Falk überlegte kurz. "Weißt du was? Wenn es für dich ok ist, komme ich einfach mit. Am Eingang können sie mich ja immer noch wegschicken."
"Stimmt. Was haben wir zu verlieren …"
Als wir die Rechnung beglichen, konnte die Bedienung ihre Neugier nicht mehr zügeln. "Entschuldigen sie - darf ich fragen, was sie da zusammen gelesen haben? Sind sie beim Theater?"
Ich zog die Augenbrauen hoch. "Natürlich dürfen Sie fragen! Wir haben einen erotischen Text geprobt. Aber nicht fürs Theater."
"Einen erotischen Text?"
"Ja", antwortete ich kurz.
"Und gibt es die Möglichkeit, sich diesen Vortrag anzuhören?"
"Ja. Es ist aber etwas kompliziert." Ich dachte kurz nach. Zu dem Livestream kam man nur als Mitglied des Portals, in dem wir auftreten würden.
Ich notierte dessen Namen sowie die Daten des Streams.
Unsicher entzifferte die junge Frau meine Notizen.
"Gib ihr doch einfach deine Telefonnummer - für den Fall der Fälle!", schlug Falk vor.
Ich zögerte und betrachtete die vor uns stehende Bedienung. Sie griff sich an den Hals und spielte nervös mit dem Anhänger ihrer Kette. Erst beim zweiten Hinschauen erkannte ich - ein silbernes Löffelchen!
Da war's um mich geschehen. Ich wollte herausbekommen, was es damit auf sich hat. Rasch schrieb ich meine Handynummer auf den Zettel, den die Bedienung strahlend annahm.
Sie wandte sich an Falk. "Sie haben eine tolle Frau! Ich wünsche Ihnen einen schönen Abend."
Dann hatte sie es aber eilig, hinter der Theke zu verschwinden. Der nächste Gast wartete schon.
Falk und ich verließen das Lokal. Vor der Tür feixte er: "Sie hat, was sie wollte!"
"Was meinst du?", fragte ich ratlos.
"Deine Telefonnummer!"
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