Der Gaukler der Lüfte
„Wie schön du bist!" Sie betrachtete die bunten, irisierenden Farben. Der Schmetterling schlug rhythmisch mit den Flügeln, als wolle er sie necken. Zeigte die harmonischen Muster einen Moment - gleich einem aufgeschlagenen Buch. Bevor sie jedoch darin lesen konnte, klappte er es zusammen und sofort wieder auf. Er saß auf ihrem Handrücken, tankte dessen Wärme und genoss den irreführenden, blumigen Duft der Creme, die sie benutzt hatte. Kostete mit seinem feinen Rüssel von der leicht salzigen Oberfläche. Die Sonne schien vom azurblauen Himmel und täuschte einen Sommertag vor. Der kühle Wind entlarvte sie jedoch und erinnerte daran, dass es erst April war.Sie beobachtete die winzigen Bewegungen des bunten Gasts auf ihrer Hand. Vorsichtig krabbelte dieser Schritt für Schritt bis zur Fingerspitze, als suche er eine passende Abflugrampe. Nach einigen theoretischen Flügelschlägen, mit denen er wiederum seine prächtige Färbung herzeigte, hob er ab und torkelte gegen den Wind davon.
Sie sah dem Frühlingsboten hinterher. In ihr regte sich eine Sehnsucht, diesem Falter vergnügt wie ein Kind hinterherzuhüpfen. Wen würde es kümmern, wenn eine Frau Anfang fünfzig fröhlich durch die Gegend sprang?
Eilig folgte sie dem Flattermann, der sich bereits entfernt hatte. Er hielt sich in einer Höhe, in der man ihn nicht aus den Augen verlieren, aber auch nicht einfangen konnte. ‚Ein steter Ansporn - wie die Karotte an der Schnur vor dem Maul des Esels', dachte sie schmunzelnd. „Aber ebenso unerreichbar", murmelte sie kopfschüttelnd. Dennoch ließ sie sich von der offensichtlichen Leichtigkeit anstecken. Sie klemmte die Handtasche unter ihren Arm und trabte in die gleiche Richtung wie der Schmetterling.
Die flotte Bewegung und die Tatsache, dass der Falter in Reichweite blieb, erfüllte sie mit Fröhlichkeit und Hoffnung. Wie leicht konnte es sein, Glück zu empfinden, wenn man die Augen nur offenhielt!
Schließlich verringerte der hübsche, bunte Gesell' seine Flughöhe und steuerte einen blühenden Fliederbusch an.
Erst jetzt bemerkte die Dame, deren Blick himmelwärts gerichtet war, dass sich die Beschaffenheit des Bodens unter ihren Sohlen verändert hatte. Kein geteerter Weg mehr, sondern lichtes Gras, das in weichen Sand überging. Sie schaute sich um und stellte fest, dass ihr Verführer sie genau dorthin geführt hatte, was ohnehin ihr Ziel gewesen war - das Ostufer des Rheins.
Hier hatte sie vorgehabt, Sonne und Ruhe zu tanken.
„Ein schönes Plätzchen hast du mir hier gezeigt!" Sie beugte sich dankend zu dem Schmetterling, der eifrig von Blüte zu Blüte krabbelte und den süßen Nektar schlürfte. Ihn weiterhin beobachtend setzte sie sich in den warmen Sand und streifte die Schuhe ab. Ließ die Zehen vergnügt im leichten Wind wackeln.
Nach einer Weile flatterte das Leckermäulchen neben sie und landete auf dem sonnenbeschienenen Boden. Wollte es etwa einen Verdauungsschlaf halten? Es bot seine Farbenpracht dem Glutball am Himmel dar. Dabei ließ es sich auch nicht von den leichten Böen beirren, die ab und zu an den Flügeln zupften.
Nach kurzem Zögern legte sich seine Bewunderin auf die Seite, ohne den Blick von ihm zu lösen. Was scherten sie jetzt die Sandkörner im Haar, über die sie später sicher fluchen würde? Im Moment war nur diese zauberhafte Stimmung wichtig. Die scheinbare Intimität mit dem Insekt, das sie ans Ufer geleitet hatte. Der Fliederduft, der ihre Nase umschmeichelte, sowie das glänzende Band, das das Ostufer vom Westufer trennte. Vogelgezwitscher. Kindergelächter. Wasserplätschern.
Dieser Gaukler der Lüfte - hatte er ihr nur vorgegaukelt, ihr diesen hübschen Platz zeigen zu wollen? War es einfach nur Zufall?
Ein schöner Zufall jedenfalls. Sie betrachtete fasziniert das Farbenspiel, das die Lichtreflexionen im Quarz an den Flügelunterseiten hervorriefen.
Als der Schmetterling sich genügend aufgewärmt hatte, schlug er mit seinen Flügeln. Geradewegs so, als wolle er sich von deren Funktionstüchtigkeit überzeugen. Dann hob er ab und flog über den Rhein davon.
Die Dame richtete sich kurz auf. Kniff die Augen geblendet zusammen. Es war hoffnungslos - der farbenfrohe Gesell' war verschlungen worden vom gleißenden Sonnenlicht.
Sie spürte kurz in sich. War da Traurigkeit oder Enttäuschung? Nein! Sie schüttelte den Kopf und lächelte. In diesem Moment war sie wunschlos glücklich. Langsam ließ sie sich wieder zurücksinken. Streckte alle Viere von sich und tankte Sonne - so wie es ihr der Falter vorgemacht hatte. Genoss diese Sekunden. Oder waren es Minuten? Wer wollte denn die Wunschlosigkeit vermessen?
Copyright by Regina2, April 2022