José
José war mit jedem Blutstropfen ein echter Tango-Afficionado gewesen. Trafen seine feurigen Augen auf ein begehrtes Objekt, so konnte man noch Tage später eine Schmauchspur sehen. Doch das war nun Geschichte.Von weitem tönten schon die Instrumente mit melancholischen Klängen. Sie führten einen langen Trauerzug an. Niemand blieb ungerührt. Hinter den Spitzenschleiern der Damen liefen die Tränen über alte und junge Wangen. Und unter den schwarzen Hüten der Männer war man auch verstohlen am Wischen. Selbst die Vögel am Himmel sahen aus als müsse sie das Ereignis auch tangieren. Einige Kinder sprangen dennoch ungeniert zwischen der schwarzen Gesellschaft hin und her. Sie machten es richtig, José hätte seine Freude an ihnen gehabt. Genießt das Leben, so lautete die unausgesprochene Botschaft des alten Filous. Freude, Vergnügen, Lust, Genuss, sinnliche Begierde, er frönte dem Hedonismus bis zum letzten Atemzug.
Der Sarg kam näher und führte zu großem Applaudieren. Prächtig! Prächtig wie in seinem Leben. Dunkles Mahagoni mit Einlegearbeiten in Silber. Dies imponierte hier im Ort ganz besonders. Strukturell ging es seit Jahren immer weiter bergab. Zuletzt hatte auch noch die Bar geschlossen. Für einen erneuten Aufschwung sollte man die von Madrid vorgegebenen Konvergenzkriterien erfüllen. Doch das würde wohl für immer eine Illusion bleiben. Der katalanische Separatistenführer? Ja, manch einer hoffte noch auf ihn.
Die letzte Reise näherte sich ihrem Zielpunkt. Sechs honorige Sargträger gingen nun etwas schneller. Nur nicht taumeln kurz vor dem Ziel! Die ausgehobene Grube mit ihrer Auskleidung aus violetter Seide nahm den Holzkasten mit einem lustvollen Schnaufen auf und fast konnte man meinen, es wäre Josés letzter Atemzug gewesen.
Doch alle wussten Bescheid über den letzten Atemzug des Verblichenen.
Alle, alle die an diesem denkwürdigen Abend der letzten Woche im Dorf waren, hörten ihn stöhnen und klatschen und prusten, dann wieder summen, lachen und sprechen. Und je mehr die Leute hörten, umso mehr hielten sie inne, verstummten und gaben sich ganz ihren eigenen Phantasien hin, die in diesen Momenten grenzenlos sprudelten.
Bis dann plötzlich die Lautsprecher auf dem Marktplatz verstummten. Nach einem letzten gewaltigen Stöhnen war es vorbei. Alle starrten auf die Tür der Kathedrale.
Die alte Lautsprecheranlage erinnerte noch an die Zeit, als es zu den Feiertagen so einen großen Andrang in der Kirche gab, dass die Messe auch noch vor der Kirche zu hören sein musste. Das war lange her und keiner hatte damit gerechnet jemals wieder etwas aus diesen Lautsprechern zu hören.
Madonna! Manch einer bekreuzigte sich rasch. Was war in der Kathedrale los? Da flog die Tür auf und schreiend rannte Estrella die Stufen hinab. Estrella? Die Bewohner schauten ihr ungläubig entgegen. Estrella also, die Frau des Bürgermeisters. Doch war dies noch wichtig?
Jetzt stürmten die Ersten zur Kirche hin. José lag auf den Stufen vor dem Altar und sah aus als träume er etwas Wunderschönes.
Im Hintergrund trat Monsignore aus der Sakristei, schloss mit einer zärtlichen Handbewegung Josés feurige Augen für immer und sah sich um. Er murmelte etwas von Estrella und lief er mit Riesenschritten durch das Hauptportal nach draußen.
Geblendet von der Sonne musste er sich erst orientieren, dann sah er sie. Sie stand an einer Mauer und rieb sich mit dem Rand ihres Seidentuches die Augen. Er nahm sie in den Arm, beruhigte sie und führte sie zurück in die Kirche.
Als wenige Minuten später der Bürgermeister die Kirche betrat, stand seine Frau neben dem Priester. Dieser gab sich fassungslos und legte sofort los. Das könne man doch nicht glauben, da sei man im Beichtstuhl und nehme der Frau Bürgermeister die Beichte ab, während dieser José alle Genüsse des Lebens wohl träumte und dabei via Lautsprecher dem ganzen Dorf zugänglich machte. Und es musste ein sehr intensiver Traum gewesen sein, so erzählte Monsignore in hektischen Tönen, denn der Traum habe den Mann letztlich getötet.
Sie legten eine Altardecke über den Toten und Estrella verließ stolz am Arm ihres Mannes den Ort des Geschehens.
Nun, am Tage der Grablegung, kam es nach dem Vater Unser und dem Schlußsegen des Monsignore zu Josés endgültiger Verabschiedung am offenen Grab. Ein wahrer Blumenregen bedeckte das Mahagoniholz. Auch Estrella und ihr Mann verharrten traurig kurz vor der Grube, legten eine rote Rose ab und sprachen ein stilles Gebet. Die Eine voller Liebe und der Andere mit aufatmender Dankbarkeit.