weiße Rose
Der Schnee prasselte gegen die Scheiben. Sie erwachte aus ihrem unruhigen Schlummer, fröstelnd und desorientiert. Vom Tisch her kam das warme Licht der fast herunter gebrannten Kerzen. Sie wusste nicht, wie spät es war. Die weiß schimmernde Anzeige am Festplattenrecorder unter dem Fernseher war nur eine wattige Reihe von Zeichen. Ruth richtete sich auf, stellte die Beine auf den Boden. Ihre Brille lag auf dem kleinen Tischchen neben dem Sofa. Die Welt wurde ein wenig klarer.
Halb zwei! Der Schreck machte sich in ihrem Denken breit wie kaltes Wasser, das durch die Ritzen eines leckgeschlagenen Bootes dringt, schwarz und bedrohlich.
‚Er müsste sein Stunden hier sein!’, schrie die Besorgnis in ihr. ‚Dass sie immer so hysterisch sein muss!’, dachte ihre unerschütterliche Vernunft dagegen. Schwacher Trost. Auf dem Tisch lag das Handy. Es blinkte blau. ‚Er wird eine Nachricht geschickt haben’, sagte ihre Vernunft. Ruth angelte das schwarzgesichtige Gerät mit spitzen Fingern und erweckte es zu dem, was ein Handy so Leben genannt haben würde, wäre es nicht lautlos gestellt gewesen. Das kleine Symbol des Messengers verhöhnte sie prompt: Keine Nachricht!
„Sag ich doch!“, sagte Ruth halblaut und gab der Hysterischen eine flüsternde Stimme. In ihr klang es umso lauter.
„Das will doch nichts heißen“, sagte die Vernunft und zog die Worte in die Breite. Ihr zweiter Vorname schien Gelassenheit. Ruths Vernunft aber hatte keinen Vornamen. Am wenigsten hieß sie Ruth. Sie tat manchmal nur so. Heute mit mäßigem Erfolg.
Sie stand auf, schaltete den Fernseher ein. Das war das Schöne an einer Medienwelt, für die immer irgendwo Tag war. Man konnte Nachrichten abrufen, wann immer man wollte. Das sagte freilich nichts über deren Güte.
Beim Anblick der Bilder zog Ruth die Schultern hoch und legte die Arme um sich. Der Winter machte ernst! Sie sah Szenen von Schneeverwehungen und von umgstürzten Lastwagen, gespenstische Kadaver von urzeitlichen Wesen im zuckenden Licht der Rundumleuchten. Das alles war schlimm, aber viel schlimmer war, es fand quasi vor ihrer Haustür statt.
"Dreißig Kilometer Stau!", sagte sie in die hereinbrechende Stille, als sie den Apparat ausschaltete. Sie schloss kurz die Augen, sah ihn neben sich im Wagen, das Gesicht auf fast dämonische Weise vom Rot der Armaturen beleuchtet. Er wirkte angespannt, wie er sich mit der Hand über das Gesicht wischte. Vertraute Geste. Er musste furchtbar müde sein!
Sie nahm das Handy wieder zur Hand. Zögerte. Eigentlich widerstrebte ihr, ihn zu kontaktieren, wenn er unterwegs war. Sie wollte nicht, dass er sich kontrolliert fühlte.
'Aber er muss doch wissen, dass ich mir Sorgen mache!', rief die Besorgte. Es klang entsprechend und außerdem etwas anklagend, fast wie eine Rechtfertigung.
Wie auf Kommando erschien die kleine Eins über dem Icon des Messengers. Sie las und ihre Lippen formten lautlos die Worte. Ließ das Handy sinken und schloss lächelnd die Augen.
"Mach dir keine Sorgen, es geht mir gut. Geh schlafen. Weiße Rose!"
Ruth öffnete den Bilderordner und tippte auf das kleine Vorschaubild. Sein Gesicht erschien, von unten mit gelbem Licht angestrahlt und diesem Gesichtsausdruck, den sie nur zu gut kannte. Sie sah nur seine nackten Schultern, aber es war genau diese Haltung, die sie sah, wenn sie die Augen schloss. Sie küsste zärtlich das Display des Telefons, wischte dann lächelnd die Spuren fort.
Seufzend raffte sie sich auf. Noch auf dem Weg ins Bad begann sie, sich auszuziehen. Nur mit Slip bekleidet stand sie im Bad und putzte sich die Zähne. Das helle Licht des Spiegelschrankes malte ihr bläuliche Schatten ins Gesicht und sie fand sich plötzlich unattraktiv und alt. In dem Moment, als sie sich hinunter beugte um, den Mund auszuspülen, spürte sie seine Hände wie sanfte Flügel an ihrer Hüfte. Sie hielt inne, verlagerte das gewicht auf den rechten Fuß und stellte das Linke etwas seitlich. Seine Lippen berührten die Kuhle über ihrer Wirbelsäule genau über dem Becken. Er würde seine Arme um ihren Bauch schlingen und sein Gesicht an ihren Rücken schmiegen. Sein Bart würde die Stelle zum Beben bringen, wo sie diese Stromschläge empfand, wenn er darüber strich. Eine Gänsehaut machte sich auf ihren Armen breit, obwohl das Wasser, das ihr über die Hände lief, warm war. Sie hielt die Luft an. Seine Hände berührten die Rückseiten ihrer Oberschenkel kurz über den Kniekehlen. Langsam wanderten sie nach oben, während er ihr warmen Atem auf die nackte Haut ihres Rückens blies. Es war so real, dass sie etwas in die Knie ging, weil sie die Berührung seiner Finger erwartete, ja ersehnte.
“Bitte, bitte”, halte es in ihren Gedanken wider. Sie kannte diesen hohen Ton. Einmal hatte sie geschrieben, sie bräuchte kein Helium, nur seine Hände. Oder die Erinnerung daran …
Als sie sich aufrichtete und in den Spiegel blickte, sah sie ein etwas unsicheres Lächeln, ganz so als hätte sie sich selbst gerade bei etwas ertappt.
Sie nahm den Rock, die Bluse und die Halterlosen über den Arm und tappte hinüber zum Schlafzimmer. Einen Augenblick erschrak sie, denn die kleine Lampe in der Ecke verbreitete dieses samtene, rötlich schmeichelnde Licht. Sie hatte es eingeschaltet, weil sie ihn erwartete. Weil sie ihn überraschen wollte. Das Zimmer wirkte erstaunlich aufgeräumt und sie lächelte über sich selbst. Dabei störte ihn die Unordnung meist überhaupt nicht. Nur sie selbst fühlte sich dann nicht ganz wohl, ließ sich von ihrem eigenen schlechten Gewissen in die Enge treiben. Wie oft hatte er ihr versichert, dass das völlig unnötig wäre … Er verstand mitunter nicht, dass es dabei nicht um seine Meinung sondern ihre eigene ging. Manchmal war er eben ein Mann, ein liebenswerter, charmanter und einfühlsamer, zugegeben. Aber ein Mann. Er würde angesichts dieses Gedankens die Brauen hochgezogen haben. Darum behielt sie ihn für sich.
Sie war müde und fühlte sich zerschlagen. In ihrem Innern freilich geisterte eine kleine, freche Unruhe umher. Ruth hängte die Sachen zurück in den Schrank, zog die Schublade mit der Nachtwäsche auf und suchte nach dem dunkelblauen Oberteil. Ließ plötzlich die Hände sinken, legte den Kopf ein wenig schräg und schien zu lauschen. Sie streichelte versonnen das Seidentuch, das ihr wie von allein zwischen die Finger geglitten zu sein schien. Sie spürte den sachten Duft, etwas verrucht, eine entlegene Erinnerung aufspürend. Sie wusste, dieses Tuch hatte zwischen ihren Beinen gelegen, hatte sie berührt, gestreichelt, ihr geschmeichelt, wie nur Seide es vermochte. Seide und die Kuppen seiner Finger.
Sie hörte das leise Stöhnen und wäre fast erschrocken. Sie ließ das Oberteil dort, wo es war und ging, das Seidentuch zwischen den Fingern, hinüber zu ihrem Bett. Sie stockte einen Moment, war sich nicht schlüssig. Dann krabbelte sie auf allen vieren von seiner Seite des Bettes auf ihre. Seit er hier schlief, lag sie auf der linken Seite. Es hatte sich scheinbar wie von selbst so ergeben. Es ergab sich so Manches scheinbar von selbst. Ein Gedanke, der ihr fast leichter entglitt als der seidene Zipfel. Das Tuch hüllte ihre linke Brust ein.
Sie hielt seufzend die Luft an.
“Weiße Rose”, flüsterte sie und ihre Linke schloss sich um ihre Brust mit dem wispernden, schmeichelnden und lockenden Stück Stoff. ihre Brustwarze richtete sich langsam auf. Die Rechte lag bebend auf ihrem Venushügel. Als ihr Finger sacht ihre Perle berührte, formten ihre Lippen die Worte noch einmal: “Weiße Rose”.
Eine halbe Stunde später erwachte auf der Mittelkonsole eines nachtblauen Autos ein Handy zum Leben. Die Hand des Mannes griff zu, der Daumen zeichnete den Entsperrungscode. Der Messenger zeigte eine neue Nachricht. Eine Zeile voller gelber Rosen.
Er antwortete mit einem pochenden Herzen. Dann kehrte seine Hand ans Lenkrad zurück. Noch fünfzig Kilometer und er sah die Hand vor Augen nicht. Trotzdem lächelte er.
© 2016 A.E.Jurat