Altona-Niebüll
Als ich endlich anlangte, war es schon dunkel. Ich spürte die dreihundert Kilometer als leises Summen in den Fußsohlen, als ich aus dem Auto stieg, den Rucksack geschultert,
die Sporttasche in der Linken. ich sah an dem sechsstöckigen Haus hoch, dessen Fenster einen geheimen Code von hellen und dunklen Flecken an die Welt sandte. Ich würde ihn um mein Dasein erweitern, schwer entschlüsselbar, aber wahrhaftig. Ich war in nachdenklicher Stimmung. Wie immer, wenn ich auf dich warten musste. Das wurde immer wieder einmal zur Gewohnheit.
Ich wusste dich im Bauch dieses Zuges auf diesem Einzelplatz, separiert, hoffentlich schlafend, hoffentlich träumend von dem, was geschehen konnte, sollte, mochte. Ich mochte so unendlich viel für diese wenigen Stunden, die vor uns liegen würden. Wir würden uns mit aller Kraft dagegenstemmen, dass die Zeit vor der Zeit verstrich. In einander gestemmt, in einander verwoben mit unseren Gedanken und unserer Sehnsucht, mit unseren ganz eigenen Versionen von unendlicher Lust. Untrennbar, fragil.
Ich checkte ein, fuhr mit dem Lift hinauf in den Himmel dieses Hostels, das gedämpft summte von Stimmen und Ausgelassenheit. Das Zimmer hatte alles, was ich für diesen Moment und die folgenden brauchen würde: Ein Bett, Abgeschiedenheit, ein Bad und ein drahtloses Tor zur Welt also auch zu dir. Aus deiner Antwort schwang noch immer ein gelindes, verwundertes Nicht-Glauben-Wollen-Bevor-Ich-Es-Sehe. Du bist so. Es ist deine Art von Vorfreude und deine Art, darüber hinweg zu täuschen, dass du weiche Knie hast bei dem Gedanken, dass ich hier in diesem Zimmer, mit Blick auf ein halbvolles Parkhaus, ausharre, den Magen verkrampft von Vorfreude, kaum gezügelter Lust und – gänzlich profan – Hunger.
Ich hatte versprochen, für etwas zu Essen zu sorgen, war aber irgendwie bisher nicht dazu gekommen. Außerdem musste ich herausfinden, wo ich dich mitten in der Nacht treffen würde, auf einsamem Bahnsteig mit ein paar Nachtschwärmern und übernächtigten Fahrgästen. Also machte ich mich auf den Weg.
Das Handy fand den Weg. Ich hatte erwartungsgemäß weniger Glück. Zusammen fanden wir uns zunächst unter einer lichtarmen Unterführung in Gesellschaft einer Familie wieder, die aus einem Kriegsgebiet geflohen sein mochte, nur um am Ende im Frieden auf einer schmutzigen Straße im Nichts in Deutschland ihr karges Abendessen in einer Blechdose zuzubereiten. Ich hätte gern die Straßenseite gewechselt, aber da war eine Baustelle.
Im kalten Licht der Konsumtempel des Bahnhofs spülte es mich unter lauter schrille, laute und gemeinsam einsame Bewohner der Nacht, verdammt, Hamburg Altona geil zu finden. Ich fand zumindest einen Bäckerstand und etwas zu Essen. Überlegte gar, etwas für die Familie dort unter der Unterführung mitzunehmen und kam mir blöd vor bei dem Gedanken.
Als ich zurück ging, war sie ohnehin nicht mehr da. Warum war ich da erleichtert?
Das Zimmer empfing mich mit Wärme und Erwartung.
Du hattest mich gebeten, zu schlafen, wenn ich angekommen wäre. Ich hatte dich um dasselbe gebeten im Zug. Hatten wir mit dem flirrenden Gefühl im Magen, mit dem klopfenden Herzen und den unablässigen Blicken zur Uhr gerechnet? Es ging auf Neun, als ich mich schließlich entschloss, doch noch etwas zu schlafen. Ich zog die schweren Vorhänge vor die Fenster, die die gesamte Stirnseite des Zimmers einnahmen. Da lag ich im streifigen Dunkel und schaute zur leeren Seite des Bettes hinüber, den Blick voller sehnsuchtsvoller Magie, dich dort hin zu wünschen. Ich dämmerte ein, sah mir beim Schlafen zu und betete darum, nicht zu verschlafen. Das Handy neben meinem Kopf brummte und ich hatte es in der Hand, bevor ich nur denken konnte. Mails, nichts Wichtiges, nichts, was mit deinen sanften Händen, deinen unbestimmbaren Augen und deinem lächelnden Mund zusammen hängen konnte.
Ich schlief und ich schlief mit dir. Es war so lebendig und erregend, dass ich erwachte mit schmerzender Erektion und meinen Händen verwehren musste, sich des Problems anzunehmen. Die Sehnsucht lag mit Schweigen und den nächtlichen Geräuschen der Stadt im Zimmer, ein gezähmtes Untier, ein Schmusekater mit messerscharfen Zähnen.
Das bläuliche Licht des Displays bemalte mein Gesicht mit ungesunden Farben. Noch immer fast zwei Stunden. Ich flüsterte deinen Namen (das, was ich davon übrig ließ, seit wir uns kannten) wie ein Mantra hinüber zu der leeren Seite des Bettes, bis meine Augen bereit waren, deinen dunklen Lockenschopf unter dem Bettdeck zu sehen und deinen Duft im Raum wahrzunehmen. Ein Duft, der dich umgab, wo immer du warst. Ein Duft, den ich in der Therme eingesogen hatte, der noch Tage nach deinem Besuch die Polster des Beifahrersitzes bewohnte, wie die meines Sessels. Es war fast ein wenig so, als wäre etwas flüssige Seele dort eingesickert, hätte sich eingenistet. Meine Hand glitt hinüber und hielt verzagt inne. Ich wollte die Illusion nicht verjagen, obgleich ich um sie wusste...
Der Klingelton des Weckers riss mich aus dem Schlummer und ich war selten so erleichtert.
Am Laptop suchte ich einen Weg für das Auto und mich. Wir hatten keine Zeit zu verschwenden, nicht mit dem Laufen durch lichtarme Straßen voller (erdachter) lichtscheuer Gestalten.
Ich war eine Viertelstunde zu früh auf dem Bahnsteig. Der Bahnhof lag in unruhigem Schlummer, sein Atem ging unregelmäßig und die unbekümmerten Stimmen junger Menschen schienen wie böse Träume.
Meine Nerven flatterten unruhig wie die weißen Tauben in einem Film von John Woo. Die Realität schien sich mit allem gegen den Minutenzeiger der Normaluhr an der Stirnseite des Bahnhofs zu stemmen. Dass mir das Handy längst von der kleinen Verspätung des Zuges erzählt hatte, machte es keinen Deut leichter, hier auf dem leeren Bahnsteig zu warten.
Als der Zug einfuhr, fühlte ich die Unwirklichkeit des Augenblicks, die Spannung, das Gefühl, das fast Gewissheit war, dass du nicht aussteigen, dass ich hier vergebens stehen würde.
Bis ich deine Silhouette gegen das weißblaue Licht der Neonlampen sah. Ich hätte weinen mögen, aber ich spürte mich lachen, weil wir lachen wollten, wenn wir uns in die Arme nähmen. Diese Gestalt im Gegenlicht, die Bewegungen, die Corona des Haars um deinen Kopf, ich schwor bei dem Anblick, dies für immer im Gedächtnis zu behalten.
Ich hatte dein Gesicht in meinen Händen dort auf dem Bahnsteig kurz vor der Hundewache. Für einen Moment und in diesem Augenblick schrumpfte alles auf dieses Gefühl. Mein Herz strömte dir zu. Strömte als Heiterkeit in mich zurück.
Wir redeten. Ich genoss deine Stimme, deine lakonische Art zu erzählen, das Lächeln in deinen dialektgefärbten Worten. Selbst der Anflug von Müdigkeit stimmte mich sanft.
Wir im Auto auf dem Weg ins Hotel.
Das Rot der Armaturen auf deinem Gesicht.
Wir in unserer Unbeholfenheit auf dem Weg ins Hostel.
Der verwinkelte Gang dort oben im Himmel des Hauses ließ etwas Abenteuer ahnen. ‚Wie geht es dir, mein Herz?’, riefen meine Gedanken hinter dir. Ich wusste, auf irgend einer Ebene spürtest du sie, gabst du mir Antwort. Meine Hände spürten die Vibrationen, oder war das nur mein Herz, das raste?
Die Tür sank ins Schloss. Die Fremdheit blieb gerade so lange, bis ich deine Jacke auf den Bügel gehängt hatte. Sie wisperte mir zu: „Ich lass’ euch dann mal allein“ und entschwand durch den schmalen Spalt zwischen den schweren Fenstervorhängen in die Nacht von Hamburg. Die Nähe zeichnete mit gütigen Händen ihre Runen auf unsere Stirnen, als wir uns gegenüber standen. Ich sah es in deinen Augen, ich spürte es in der Art, wie sich deine Lippen öffneten, wie unsere Zungen Wiedersehen feierten, wie unsere Körper Fühlung aufnahmen durch die Kleider.
„Haufenbildung!“, war deine lakonische Beschreibung dessen, was kurz darauf mit ihnen geschah. Meine Hände brannten und waren wie sanfte Fidibusse auf deiner Haut, Hitze und Verlangen entzündend. Ich hörte deinen Atem, ich spürte deine Bewegungen.
Die Überraschung: Da standest du vor mir mit halterlosen Strümpfen. Jene Strümpfe, die ich auf einem deiner ersten Fotos gesehen hatte, ein wunderschönes Bein bewundernd.
Ein Schauer stellte mein Nackenhaar auf und du sahst in meinen Augen, was dieser Anblick mit mir anstellte. Ich drängte dich auf das Bett, meine Hände liebkosten dieses besondere Gefühl von Haut und Strumpfgewebe, ein Gefühl, das Verstand vernichtend und Fantasie entzündend war. Mein letzter Zweifel schwand, verbrannte im Feuer deines lächelnden Blickes. Ich hatte dir geschrieben, ich würde dich nicht auf die Insel lassen, ohne mit dir geschlafen zu haben. Nicht, ohne dich vorher gesehen, geküsst oder gesprochen zu haben. Ohne mit dir geschlafen zu haben. Eine Unverschämtheit? Eine Reduktion auf reinen Sex? Ich spürte die wunderbar feine raue Struktur des Strumpfes unter meiner Hand und wusste: Du wolltest genau das: Dass wir mit einander schliefen, hemmungslos, innig, verrückt, lustvoll und voller Sehnsucht.
Ich sah deine Scham durch deinen Slip, ich sah eine kleine feuchte Stelle dort, als du die Beine unter dem sanften Druck meiner Hände öffnetest.
Erste Berührung jener so empfindlichen, sehnsüchtigen Bereiche deines Körpers. Alles war Erwartung gewesen, die Küsse, die sachten, gewalttätig sachten Hände auf deiner Haut, die Küsse und geflüsterten Worte. Alles steuerte auf diese ersten Berührungen hin.
Ich zog dir den Slip von den Hüften. Dein Duft empfing mich, deine Lust, deine Gier. Ich tauchte ein...
Zwei Stunden und kein Tabu. Ich hielt dich, ich trieb dich, du nahmst mich in dich auf und in deine Seele. Ich durfte dich erleben und in dir verlöschen. Die Erschöpfung setzte uns die Grenze.
Habe ich tatsächlich noch geschlafen? Nein, wohl nicht, eher deinen Schlaf bewacht zwischen Fürsorge, Zärtlichkeit und Eifersucht. Der Schlaf sollte dich nicht haben, dich nicht umfangen. Das war meine Aufgabe, mein Privileg. Ich war nicht bei Sinnen, alle Sinne auf dich fokussiert.
Hab dich um deine Panik gebracht mit meiner Lust, hab dich getrieben, geliebt und zu allem verführt, was du noch geben konntest. Überschattet von lächelnder Traurigkeit und grenzenloser Freude, dich zu sehen, zu spüren, zu hören, deinen Schweiß zu schmecken und deinen Nektar. Hab dir meine Zuversicht geschenkt, kostbar und nicht ganz ehrlich.
Fahrt in den Morgen. Hamburg - Niebüll. Die Augen leuchteten noch vom Glück der letzten Stunden. Das Auto hatte Bodenhaftung. Wir eigentlich auch?
Du sitzt neben mir, das Handy auf dem Schoß, dazu deine Tasche. Du sitzt auf einem anderen Stern für mich.
Ich muss dich fühlen.
Du willst mich fühlen.
Wir sind unvernünftig wie Kinder. Kinder beim Entdecken? Du lachst, als ich schließlich auf den Parkplatz fahre. Die Scheiben beschlagen, deine Brille auch. Du bindest die Haare mit deinem Armband nach hinten. Ich sehe uns wie im Traum und dann gar nichts mehr.
Ist das wirklich passiert?
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