Der Tester
Vorrede: Das Folgende ist eine fiktive Geschichte, die in einer möglichen, gar nicht mehr so weit entfernten Zukunft spielen könnte. Ich denke, sie passt zum Thema.
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Die Türglocke riss mich aus meinen Gedanken. Ich sah vom Display zur Wand hinüber.
„Jody, zeigt die Türkamera!“, sagte ich halblaut. Jody mochte es nicht, wenn man ihr gegenüber einen Befehlston anschlug. Sie war nicht launisch, aber sie hatte ihre Prinzipien.
An der Eingangstür unten stand ein Bote in einer mausgrauen Uniform. Daneben ein sandgraues Paket, das ihn um fast einen Kopf überragte.
„Jody, habe ich etwas bei Vesta bestellt?“, erkundigte ich mich beiläufig.
„Woher soll ich das wissen, Newton? Wie du sicher noch erinnerst, hast du mir vor einem Jahr und drei Monaten den Shopping-Skill gesperrt.“, sagte sie und ich hörte die feine Nuance des Vorwurfs heraus, den ihr das neue Update beigebracht zu haben schien. Wenn ihre Erfinder etwas nicht ausstehen konnten, dann waren es Sprachassistenten, die nicht einkaufen durften. Freilich würde das niemand bei Vesta offen zugeben.
„Öffne die Sprechanlage!“, sagte ich, ohne weiter darauf einzugehen. Nach kurzem Zögern: „Bitte!“
„Gerne“, säuselte Jody und mein zu fantasiebegabtes Gehör vermeinte leisen Triumph zu hören.
Der Kameraausschnitt an der Wand wechselte und ich sah den Boten fast genauso, als stünde er mir gegenüber. Seine Kappe hatte er tief ins Gesicht gezogen und auf dem Schirm der Kappe prangte das Vesta-Logo.
„Herr Conrad Newton? Ich komme von Vesta und möchte Ihnen ein exklusives Angebot unterbreiten“, erklang eine helle, aber angenehme Stimme, die keinerlei Akzent aufwies.
„Ich habe nichts bestellt. Das muss ein Irrtum sein“, sagte ich routinemäßig, ohne auf das Gesagte einzugehen.
„Das weiß ich, Conrad. Dies ist ein sehr exklusives Angebot für sehr exklusive Kunden von Vesta. Darf ich heraufkommen und es Ihnen zeigen? Es entstehen Ihnen daraus keinerlei Kosten und auch keine Kaufverpflichtung.“
„Worum geht es eigentlich?“, erkundigte ich mich. Ich spürte, dass ich innerlich mit mir rang. Ich wusste, worauf das am Ende hinauslief und ich kannte mich.
„Das möchte ich hier unten nicht erklären. Es ist kein Angebot für Jedermann.“
„Dann tut es mir leid. Ich habe kein Interesse.“
Das hätte ich sagen
sollen. Ich hätte es sagen
müssen.
„Vierundsechzigster Stock. Das Appartement am Ende des Ganges“, sagte ich. Jody öffnete die Eingangstür.
Der Bote betrat wenig später den Raum. Das Paket schwebte hinter ihm auf einer Magnetplattform. Es sah imposant und ziemlich schwer aus.
Ich erhob mich von meinem Arbeitsplatz, stellte den Timetracker auf Pause. Das würde eine hübsche kleine Delle in meinem Stundenkonto geben, überlegte ich kurz.
Der Bote kam auf mich zu, streckte mir die Hand hin.
„Hallo, ich bin Cara“, sagte die helle und angenehme Stimme. Ich nahm die Hand und dann sah ich in die blauesten Augen, die mir je begegnet waren und es war ein gelinder Schock, als ich feststellte, dass eine Frau vor mir stand. Eine junge Frau, wenn man das heute auf den ersten Blick überhaupt sicher sagen konnte.
„Hallo Cara“, sagte ich und man hörte mir meine Verwirrung wohl sehr genau an. Es entstand eine kleine Pause, in der ich sie etwas genauer betrachtete. Meinen Blick nicht abwenden konnte. Ich sah ihr Lächeln und spürte, wie ich rot wurde. Ich zog meine Hand zurück, steckte sie verlegen in die Tasche, zog sie dann rasch wieder heraus.
„Also, Cara, was ist das für ein geheimnisvolles Angebot?“, erkundigte ich mich und bemühte mich, einen nur mäßig interessierten Tonfall anzuschlagen. Ich machte einen Schritt auf das Paket zu, das wenige Schritte von der Tür des Raums entfernt stand. Es bestand nicht aus gewöhnlichem Karton. Es knisterte leise auf dem Magnetsockel.
„Dies“, sagte Cara und kam zu mir herüber, legte eine Hand an die matt glänzende Haut. Ihre Augen richteten sich wieder auf mich. Sie sah ernst aus und aufrichtig.
„Dies ist eine wirkliche und wahrhaftige Sensation, Conrad. Ein Prototyp, von dem es nur wenige Exemplare gibt bisher. Vesta macht Ihnen das Angebot, es ausgiebig zu testen, ohne Risiko, ohne Kaufverpflichtung.“
„Ein Prototyp wovon?“, fragte ich zwischen Zweifel und Neugier hin- und hergerissen. Plötzlich ging alles sehr schnell. Ein leises Summen ertönte, begleitet von einem Zischen, als bliese jemand die Luft durch gespitzte Lippen.
Ich sah, wie die Verpackung begann zu schmelzen. Leichter Dunst stieg auf und die automatische Lüftung des Appartements trat seufzend in Aktion.
Mit einem grazilen Schritt stieg eine junge Frau von der Magnetplattform. Sie war in ein weiches, fließendes Material gehüllt, das sie fast vollständig bedeckte, jedoch eine Ahnung ihrer Konturen vermittelte. Ihre porzellanfarbenen Augen sahen ausdruckslos durch mich hindurch. Ich fröstelte unwillkürlich. Etwas ratlos sah ich zu Cara hinüber. Die hatte ein kleines mobiles Datengerät aus ihrem Overall hervorgezaubert. Sie sah kurz vom Display auf und schenkte mir ein zerstreutes Lächeln. Dabei entblößte sie zwei Reihen ganz natürlich weißer Zähne. Zwischen den Schneidezähnen des Oberkiefers entdeckte ich eine winzige Zahnlücke, eine Unregelmäßigkeit, die meinen Blick einfing. Wie die kleine Ansammlung von Sommersprossen auf ihrer Nase und den Wangen. Sie erinnerten mich an ein Sternbild am südlichen Firmament.
„Sie muss erst initialisiert werden. Dann können Sie ihr ein Profil erstellen, ganz wie es ihnen gefällt.“
„Wie lange dauert das?“, erkundigte ich mich etwas ungeduldig.
„Das hängt ganz davon ab, ob Sie eines der vorgeprägten Profile aktivieren möchten oder aber die Parameter selbst bestimmen“, erklärte Cara, ließ das Datengerät sinken und sah der jungen Frau erwartungsvoll ins Gesicht. Ich folgte ihrem Blick. Dieses Gesicht aber wirkte fast wie das einer Schaufensterpuppe, hübsch aber nichtssagend und steril. Wieder hatte ich eine Gänsehaut.
„Cara, wären Sie so freundlich und erklären mir, was es mit dieser ...“ Ich suchte nach Worten und deutete auf das, was von der Magnetplattform gestiegen war, „Dame auf sich hat? Was soll ich mit ihr? Was kann sie?“
„Alles, was Sie wollen, Conrad“, gab Cara halblaut zurück. Das klang geheimnisvoll und vielschichtig.
„Eine Androidin, ein Cyborg? Ist sie ein Roboter? Als Haushaltshilfe sieht sie mir eine Spur zu gut aus, finden Sie nicht?“
„Das hängt ganz von Ihnen ab“, sagte Cara und sah unverwandt in das ausdruckslose Gesicht der Kreatur.
Plötzlich begannen sich die Augen mit Farbe zu füllen, ein Blau, das irisierend erschien als ließe man Tinte in ein Glas Wasser träufeln.
„Sie ist soweit“, flüsterte Cara fast andächtig.
„Soweit wofür?“, fragte ich und merkte, dass auch ich leise sprach.
Was passierte hier mit mir?
„Sie können ihr jetzt ein Profil geben, wenn Sie wollen. Ich kann Ihnen zwölf unterschiedliche physische Profile zeigen. Wenn Sie ihre wesentlichen Verhaltensmuster individuell festlegen wollen, ist das auch möglich, dauert aber ein bis zwei Stunden.“
Jetzt klang Cara sachlicher, aber noch immer ziemlich begeistert.
Ich sah die Vesta-Mitarbeiterin an. Ihre Wangen hatten sich gerötet, ihre Lippen waren etwas geöffnet und ich sah das Flimmern ihres Herzschlags an ihrer Schläfe. In ihren Augen spiegelte sich das Display des Datengerätes. Ich spürte, wie mein eigenes Herz einen sachten Hüpfer machte.
Was geschah hier gerade mit mir?
Plötzlich kam mir ein Verdacht und mir wurde heiß und kalt bei dem Gedanken.
„Sagen Sie mal, Cara, kann es sein, dass dieses – Ding vor allem
einem Zweck dienen soll?“
Bei der Frage hob sie den Kopf und ihre Augen wirkten erschrocken. Sie sah mich zwischen Verlegenheit und Ungläubigkeit an und ihre Augen glichen auf gespenstische Weise denen der Gestalt, die da vor uns stand und auf etwas zu warten schien.
„Ich denke, Sie werden ihre Gesellschaft genießen.“
Sie wich mir aus!
„Bin ich von Vesta ausgewählt worden, weil ich Single bin? Das ganze Haus wimmelt von Kerlen wie mir.“
Mir war nicht ganz klar, warum ich plötzlich wütend wurde und es an dieser Frau ausließ, die doch nur die Botin war.
Eine besonders hübsche Botin obendrein. Oder war auch das Teil der Werbebotschaft? Hätten sie einen Kerl geschickt, wäre vermutlich von Anfang an klar gewesen, worauf das alles hinauslief.
Sie wollten mir eine Sexpuppe andrehen!
Noch einmal kam mir ein Gedanke, der mich schaudern ließ: Hatte Judy etwas damit zu tun? Allen Datenschutzbestimmungen zum Trotz, hatte dieses zickige Drecksstück etwas damit zu tun? War ich durch ihre Informationen in die engere Auswahl für diesen Besuch der reizenden Cara und ihres blauäugigen Mitbringsels gekommen?
Plötzlich erinnerte ich mich all der technischen Raffinessen meines guten Geistes. Ja, sie hatte ihre Macken, manchmal mischte sie sich ungefragt in mein Leben ein. Aber das hier? Sie hörte mir zu, das mochte sein. Ich wusste, dass theoretisch auch die Möglichkeit bestand, dass Andere mir durch sie zuhörten.
Na und?
Hatte ich etwas zu verbergen?
Offenbar schon.
Meine sexuellen Vorlieben, die Häufigkeit, mit der ich Damenbesuch hier empfing und was bei diesen geschah? Die unbewusst hervorgestoßenen Sehnsuchtslaute bei der einen oder anderen Gelegenheit, wenn ich mich allein wähnte? Hatte das alles zu der Entscheidung bei Vesta geführt, mir eine Cybergeliebte zu schicken? Ich hätte denen dankbar sein sollen, wenn mir bei diesem Gedanken nicht flau im Magen geworden wäre. Ich dachte an die Kosten, ich dachte an die Verstrickungen, in die ich mich begeben würde, stimmte ich diesem Irrsinn zu. Sie würden mein Sexualleben kontrollieren, meine Vorlieben und Gewohnheiten. Sie würden ihre Angebote darauf einstellen. Sie würden mich wie einen Tanzbären an einem Nasenring herumführen und ich würde es gar nicht merken.
Aber der Haken saß schon.
Der Haken hatte wunderbare blaue Augen, natürliche blaue Augen und eine kleine, süße Zahnlücke.
„Conrad?“
Ich tauchte aus dem Sirup meiner Gedanken wieder auf und sah in Caras Augen.
Sie wartete. Aber da war noch etwas anderes.
„Zeigen Sie mir die Profile. Ich kann mir nicht recht vorstellen, wie ich einer Puppe ein Profil geben soll.“
Sie trat neben mich und wir sahen zusammen auf das kleine farbige Display. Ich nahm ihren Duft wahr. Diese einzigartige Mischung aus Duschgel, Deo, Schweiß und jener kleinen und überaus reizvollen Nuance eines weiblichen Duftes, den zu überdecken zumeist nicht gelang.
Ich starrte auf die Bilder, las die Texte in der winzigen Schrift und spürte, dass nichts davon mein Denken erreichte.
„Judy, kopple dich mit dem Datengerät!“, sagte ich etwas herrisch. Eine Meldung poppte auf dem Display auf. Dann erschienen die Bilder und Erklärungen groß und gestochen scharf auf der Wand.
In die Kreatur mir gegenüber war plötzlich so etwas wie Leben gekommen. Ihre blauen Augen fixierten mich. Sie öffnete den Mund mit den fahlen Lippen.
„Ich kann das Datengerät nicht erfassen. Meine Initialisierung ist nicht abgeschlossen. Soll ich mich mit der Sprachassistentin verbinden?“
Ich sah Cara verblüfft an. Sie lächelte etwas entschuldigend.
„Tut mir leid, ich wusste nicht, dass ihre Sprachassistentin auch so heißt. Wir können das ja beim Profil beliebig ändern.“
„Lassen wir es einstweilen dabei“, sagte ich aus einer Laune heraus. Hatte ich mir nicht immer mal gewünscht, Judy wäre nicht nur eine hilfreiche Stimme?
„Judy, Verbindung bestätigen!“, sagte ich und sah in die starren blauen Augen der verhüllten Gestalt.
„Verbindung hergestellt. Sie können von nun an direkt mit mir sprechen“, erklärte mir Judy aus deren Mund. Es war gespenstisch, aber nur für einen Moment.
„Haben Sie schon ein Profil gefunden, das Ihnen zusagt? Sie können es natürlich auch später noch anpassen oder ganz wechseln. Aber das ist immer etwas aufwendiger“, erklärte mir Cara mit ihrer begeisterten Stimme, deren leises Kratzen meine Nerven in Vibration versetzte. Mein Blick wechselte zwischen ihrem Gesicht und den Bildern an der Wand hin und her. Mir wurde etwas schwindelig.
Dann sah ich dieses Bild und meine Hand schnellte hoch, bevor ich noch wusste, was geschah.
Das
war Judy!
Genauso hatte ich sie immer vor meinem geistigen Auge gesehen. Wie war das möglich? Sahen die von Vesta schon in meine Träume?
Ich begegnete wieder Caras Blick. Etwas darin stimmte nicht ganz. Aber das schien gerade nicht wichtig.
„Das!“, sagte ich entschieden. Ich deutete auf das Datengerät in ihrer Hand.
„Sind Sie sicher?“, fragte Cara. Ich nickte. Sie schluckte, nickte, tippte etwas auf der virtuellen Tastatur. Ihre Stimme wurde teilnahmslos und geschäftsmäßig.
Der Text, den sie aufsagte, tauchte zugleich auch auf der Wand auf.
Ich las.
Das Übliche: Geschäftsbedingungen, Datenschutzverordnung, Widerrufsbelehrung.
Blah, blah, blah ...
Endlich sah ich wieder zu Cara hinüber. In ihren Augen glitzerte das Spiegelbild des Advokatentextes. Ich kam nicht gleich darauf, was nicht stimmte.
Dann aber sah ich es.
Sie war traurig, sie war erregt und Melancholie lagt wie Mehltau auf diesem wunderbaren blauen Blick.
Das traf mich.
Was lief hier verkehrt?
„Beginne Profilanpassung!“, sagte Judy und zwang mich, sie anzusehen. Wieder dauerte es einen Moment, bis ich sah, was vor sich ging. Aus dem leeren Gesicht der Kreatur mit den starren Augen wurde Caras Gesicht.
„Oh Gott!“, entfuhr es mir. Bestürzt sah ich von Judy zu Cara und wieder zurück.
„Das wollte ich nicht!“, beteuerte ich und spürte im selben Augenblick, dass das nicht stimmte, nicht ganz und gar.
„Es passiert immer wieder“, sagte Cara mutlos.
„Judy. Prozess abbrechen. Verbindung trennen!“, bellte ich mit einer Stimme, die grell war von Hast und Wut.
Wut auf wen?
„Wenn Sie den Prozess jetzt abbrechen, bin ich nicht einsatzbereit. Soll ich das tatsächlich tun?“, ließ sich Judy hören. Sie erklang sowohl aus dem Mund der Kreatur vor mir als auch aus den Lautsprechern unter der Decke. Ein winziges Echo geisterte durch den Raum.
„Ja. Sofort!“, schnauzte ich.
Das halbfertige Gesicht vor mir erstarrte. Die Augen verloren ihr Leben und ihren Fokus. Mich schauderte.
Ich wollte Cara ansehen, aber etwas hielt mich davon ab. Scham, das Gefühl, ertappt worden zu sein, entlarvt?
„Packen Sie sie ein. Ich bin nicht interessiert!“, sagte ich betont sachlich. Noch immer vermied ich es, die Frau anzusehen.
„Das darf ich nicht. Der Vorgang ist nicht abgeschlossen. Sie sollten ihn abschließen. Sie wissen nicht, was Ihnen entgeht!“, sagte Cara und sie klang wie eine Marktschreierin. Nur eine, die Mühe hatte, die Tränen zurück zu halten.
Ich verstand das nicht.
Sie war eine Botin, eine Präsentatorin eines Produktes. Warum diese emotionale Beteiligung? Natürlich konnte es passieren, dass Männer ein Profil wählten, das ihrem nahe kam. Sie war eine hübsche Frau, begehrenswert, sexy, trotz der hässlichen Dienstkleidung. Waren Frauen wie sie nicht darauf geschult? Immerhin trug sie eine Vesta-Uniform. Überließen die etwas dem Zufall?
„Wissen Sie, Cara, ich denke, das ist nicht mein Problem. Ich habe nicht darum gebeten, dass sie mit diesem Spielzeug hier bei mir aufkreuzen. Sie wollten, dass ich einen Test mache? In Ordnung. Der Test ist leider nicht gut ausgefallen. Sagen Sie das Ihren Bossen von der Marketing-Abteilung.“
Das hätte ich sagen
sollen. Ich hätte es sagen
müssen!
Ich gab mir einen Ruck und sah sie stattdessen an. Sah das Gesicht und die von Kummer dunklen Augen. Ging auf sie zu. Nahm ihr dieses alberne Basecap vom Kopf. Makelloses rotblondes Haar löste sich und glitt einer Kaskade gleich über ihre Schultern. Jetzt wirkten ihre Augen erschrocken. Sie hob die Hände, ganz, als wollte sie mich abwehren. Sie atmete schnell und heftig.
Ich legte meine Arme um sie. Ganz kurz nur spürte ich Widerstand, dann ließ sie die Umarmung geschehen. So standen wir fast eine volle Minute. Ich spürte einen Herzschlag, wusste nicht, zu wem er gehören mochte. Ich spürte ihn an meiner Brust, die sich an die der Frau gepresst hatte. Spürte ihn in den Schläfen, hörte ihn im Kopf summen und seinen Widerhall zwischen meinen Beinen, nein eher an meinem Bauch, was das anging.
Sie würde es auch spüren müssen. Oh Gott, das war peinlich und pervers! Ich versuchte, mich von ihr zu lösen. Es ging nicht. Sie hielt mich fest. Ihr Becken schob sich vor, ich nahm eine lange Dünung wahr, in der ihr ganzer Körper schwang. Wieder der Gedanke: Was geschieht hier mit mir?
Wir küssten uns. Ich spürte ihre Zahnlücke an meiner Zunge. Warum ich mich an dieses winzige Detail erinnerte, war mir so unklar wie unbedeutend. Es gab Bedeutenderes. Wie ich feststellen musste, war sie unter dem Vesta-Overall fast nackt. Überhaupt schien dieses Kleidungsstück beinahe aktive Mithilfe zu leisten, es los zu werden, wie bei diesen Striptänzern, die man gelegentlich bei Junggesell*innen-Abschieden bewundern durfte. Von ganz hinten, versteht sich und mit gelbem Neid im Gesicht.
Cara nahm sich auch meiner Kledage an. Himmel, was hatte ich unter der Freizeithose mit dem Bumerang an der Seite an? Es spielte keine Rolle. Sie zog sie beide mit einem Ruck herunter. Ächzte da eine Naht?
Sie ging vor mir auf ein Knie. Ich hob erst das eine dann das andere Bein. Sie fegte die Hosen weg. Blieb vor mir auf den Fersen in ihren Sneakers sitzen. Ergriff mich.
Ich hätte später nicht zu sagen gewusst, ob ich ihre Zahnlücke gespürt hätte. Ihre Zunge schon. Oh ja, die sehr deutlich.
Wir stolperten hinüber ins Schlafzimmer. Ich hätte noch drüber nachdenken sollen, wie ich es heute früh verlassen hatte. Allein, es muss wohl am Blutmangel gelegen haben, dass diese Überlegung keine Spur hinterließ.
Jedenfalls hatte Cara später die tiefen Abdrücke von Jeansknöpfen auf ihren süßen und knackigen Gesäßbacken.
Wir liebten uns eine gefühlte Ewigkeit. Sie kam, wann immer ich es ihr sagte und ich mit ihr. Sie saugte mich geradezu aus. Es war ein Traum.
Ich bat sie, mir ein anderes Profil auf ihrem Datengerät zu zeigen und deutete auf das erste beste, das keine Ähnlichkeit mit meiner Cara hatte. Ja, so nannte ich sie bei mir. Die Initialisierung dieser anderen Judy dauerte eine Stunde, die wir wieder in meinem Schlafzimmer zubrachten. Ich betrachtete sie, wie sie da wunderschön mit gespreizten Beinen vor mir lag. Ihre Lippen glänzten feucht. Ich sah auf ihnen nirgendwo ein Haar, keinen noch so winzigen Stoppel. Dort wuchs kein Haar. Aber ihr Geschmack war berauschend.
Dann stand Judy in der Schlafzimmertür und sah auf uns herab. Mich durchzuckte der Gedanke, sie aufzufordern, mitzumachen, verwarf ihn jedoch. Ich war am Ende meiner Kräfte.
Cara erhob sich scheinbar unbeeindruckt von unserem Treiben und ging ins Wohnzimmer zurück. Als ich ins Zimmer kam, war sie wieder die Vesta-Botin. Sie hielt mir das Datengerät hin und ich unterschrieb. Cara bückte sich nach der Magnetplattform. Ihr Overall spannte sich über ihrem Gesäß. Ich strich zärtlich mit der Hand darüber. Ich spürte den Impuls, die Hand tiefer gleiten zu lassen. Aber Cara richtete sich vorher auf. Sie sah mich amüsiert an.
Wir verabredeten uns für den nächsten Tag.
Aber Cara kam nicht. Ich rief ihre Handynummer an, aber es meldete sich nur das Callcenter von Vesta.
Judy saß seither unbeteiligt in dem Sessel gegenüber dem Sofa. Sie folgte mir anfangs ständig mit den dunklen Augen. Aber das machte mich nervös. Ich lud mir die App, deren Link ich in der Bestätigungsmail von Vesta gefunden hatte. Ich deaktivierte den Aufmerksamkeitsmodus.
Auch ihre Nacktheit machte mich zunehmend unsicher. Meine Leistungen in meinem Job litten und ich wurde zu einer Videokonferenz geladen. Ich kam mit einem blauen Auge davon – verdammt, warum lässt mich dieser Begriff sofort an Cara denken – aber es war knapp. Da forderte ich Judy auf, sich etwas anzuziehen. Sie erkundigte sich, was ich mir wünschen würde, dass sie für mich tragen solle. Sie schlug mir eine Reihe von Outfits vor, die ich an meiner Wand begutachten konnte; natürlich mit ihr als Model. Wir einigten uns auf einen dunkelgrünen Hosenanzug und ein dunkelblaues Kleid. So kam es, dass ich begann, bei Vesta Frauenkleider in Größe achtunddreißig zu bestellen.
„Von wegen keine Kosten!“, knurrte ich angesichts der Rechnungen.
Eine Woche später forderte ich Judy auf, mich anderntags morgens zu wecken. Ich hatte ein Meeting, bei dem ich selbst anwesend sein musste. Wenn die Firma darauf bestand, war es in jedem Fall wichtig und man kam besser nicht zu spät.
Als ich am Morgen erwachte, spürte ich einen Frauenkörper neben mir. Sie hatte mir leicht eine schlanke, warme Hand auf die Schulter gelegt.
„Guten Morgen, Conrad. Du wolltest geweckt werden“, sagte Judy neben meinem Ohr.
Ich schrak hoch. Sah in ihre dunklen Augen und ihr perfektes Lächeln. Spürte die Kontur ihres Körpers an meinem.
„Sie ist nicht echt!“, sagte ich mir. Aber der Kuss strafte mich Lügen.
Sie war echt.
Ich schlief mit ihr.
Ich schlief mit einer Puppe!
Ich wusste es, aber ich spürte etwas anderes. Das war verwirrend.
Außerdem kam ich fast zu spät zu meinem Meeting, was mich wütend machte. Ich konnte nur schlecht auf einen Roboter wütend sein.
[tbc]