Fünf Worte oder: 1 Million Tropfen Leben
Guten Morgen,irgendwie ist mir aufgefallen, dass noch mein Einstiegsbeitrag fehlt. Nun, dann kommt er hier.
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Eine Million Tropfen Leben
Jede Frau wird als Verführerin geboren. Manche vergessen es irgendwann, einige perfektionieren es und andere machen daraus einen Beruf. Man(n) trifft sie erst zwischen den Beinen, dann auf dem Standesamt, später vor dem Scheidungsrichter und irgendwann kommt das Vergessen. Manchmal ist es auch umgekehrt – es ist nicht geschlechtsspezifisch. Das ist der Gang der Welt und möge Gott deiner armen Seele gnädig sein, wenn du die Eine triffst, die dir das Vergessen verwehrt ...
Der lange Arbeitstag hatte eine Mischung aus Stresshormonen, Adrenalin und Testosteron in meinem Blut angestaut, die langsam toxische Werte annahm. Ich saß im Cafe Rothe und der saubere, durchsichtige Glastisch vor mir flimmerte im Licht der untergehenden Sonne. Er erinnerte mich an den Schweriner See in Zippendorf. Im Sommer gleiten dort weiße Segel wie Schäfchenwolken über das Wasser, blaugrüne Wellen rauschen leise an den Strand und statt Schweiß und Fresstempelmief ist der Duft von eingecremter Frauenhaut allgegenwärtig.
„Einen Kaffee?“
Der See in meinem Kopf zerplatzte. Ein kleiner Mittfünfziger mit müden Augen stand neben meinem Tisch. Der Fleck auf seinem weißen Hemd und die Müdigkeit in seinem schmalen Gesicht erzählten eine lange Geschichte von übellaunigen Kunden und einer Arbeitszeit jenseits von Gut und Böse zu einem Lohn, dessen Attribut „gesetzlich“ der reine Hohn war.
Ich murmelte: „Eigentlich nicht. Ich warte nur auf meine Frau.“
Unter seiner Hakennase und den Stoppeln des grauen Dreitagebartes machte sich ein wissendes Lächeln breit. „Kauft sie Schuhe oder Unterwäsche?“
Ich zog fragend die Augenbrauen hoch. Er feixte. „Wenn sie Schuhe kauft, bringe ich Ihnen besser gleich eine Kanne. Zeitungen finden Sie zwanzig Schritte weiter im Kiosk rechts und die Toilette ist eine Etage tiefer.“
Wahrscheinlich sah er mir meine Müdigkeit an. Es machte uns zu Leidensgenossen. „Sie haben Erfahrung?“
„Ich war verheiratet …“
Ein Kind schrie. Dem Vater rannen Schweißbäche über das Gesicht und die Mutter presste die Lippen zu einem schmalen Strich zusammen. Wie dunkler Rauch wehte ihr Stress aus der Einkaufsmeile zu uns herauf und der Kellner verschwand hinter dem Tresen. Fünf Minuten später verwöhnte der Duft von frisch gebrühtem Kaffee meine Nase und in Gedanken teleportierte ich wieder an den Strand des Schweriner Sees. Mitten zwischen entspannt lächelnde, sonnenüberflutete Bikinischönheiten und das leise Rauschen des Wassers.
Als ich sie nach ein paar Minuten wieder öffnete, ließ sich zwei Tische weiter eine große, muskulöse Frau in scharlachrotem Bikerleder mit der Grazie eines Raubtiers nieder, mit kurzem, schwarzem Haar, einem ausdrucksstarken, scharf geschnittenen Gesicht und dunkelrot geschminkten Lippen. Ihre dunklen Augen brannten vor Vitalität, als ob sie nicht abwarten könne, wieder hinauszugehen und etwas zu unternehmen.
Der solariumgebräunte Armani-Anzug mit Goldkette und weißem Cashmereschal an ihrem Nebentisch leckte seine schmalen Lippen. Seelenvampire wie er lungerten auf der Jagd nach Beute in jeder Einkaufspassage und in jedem besseren Kaffee herum. Sie waren immer teuer angezogen, wohlriechend, weltgewandt und innerlich verfault. Sie fühlten keinen Schmerz und merkten keinen Einschlag. Wenn sie bei der ersten Frau mit ihrem Gelaber keinen Erfolg hatten, suchten sie nach der nächsten, so lange, bis eine ihrem Jagdtrieb und ihrer Sucht nach Selbstbestätigung erlag. Sie krallten sich, was sie nur bekommen konnten – Geld, Sex, Würde und Selbstachtung und ließen immer eine besudelte Seele zurück.
Er wartete ab, bis sie bei dem müden Kellner ihre Bestellung aufgegeben hatte, dann klebte er sich ein professionelles Lächeln ins Gesicht und sprang er auf. Nach vier gezierten Schritten stand er neben ihrem Tisch, beugte sich vor und sprach auf sie ein. Er griff nach der Lehne des freien Stuhls neben ihr, da sagte sie, laut genug, dass wir alle es hören konnten: „Ich will weder, dass Sie jetzt an meinem Tisch Platz nehmen, noch später zwischen meinen Beinen. Ich ficke nur Männer.“
Goldkette erstarrte, drückte den Rücken durch, ging zu seinem Tisch zurück und versteckte sich hinter einem Männermagazin. Kurze Zeit später zahlte er und verschwand.
Unauffällig warf ich ihr aus dem Augenwinkel einen Blick zu. Sie schien ihn zu spüren, drehte den Kopf und ich erschrak. Aus ihren dunklen Augen loderte die Höllenglut eines Vulkans und ein eiskalter Hauch wehte zu mir herüber. Dann versank die Welt um mich ...
Nackte Steinwände, irgendwo flackert eine einsame Kerze. Ihr Licht weckt einen Schatten und ich höre, wie er atmet. Ich will mich umdrehen, doch etwas hält mich fest; will mich bewegen, irgendwie, doch der Befehl kommt nie bei meinen Muskeln an. Wie gefesselt schwebe ich in einem eisigen Nichts, nackt bis hinunter zum Grund meiner Seele.
Klack – Metall trifft auf Stein. Noch einmal. So geht nur eine Frau. Mein Herz hämmert in der Brust. Eine Hand berührt mich dort, weich ist sie und warm. Augen erscheinen vor mir, unstillbarer Hunger brennt darin und blasses Zungenrosa befeuchtet zu dunkel geschminkte Lippen. Es sind die gleichen, nach denen Leonardo da Vinci das Lächeln Mona Lisas gemalt hat. Ich kenne die Frau. Jeder kennt sie. Sie ist Hure und Heilige, Sünde und Unschuld, Katharina die Große und Jean d‘ Arc, Hera und Aphrodite, aber auch Medusa, Persephone und Pandora.
Sie ist Gaija, unser aller Mutter.
Ihr Finger streicht über meine Lippen und Zeit wird zu einem Wort ohne Sinn. Nur noch diese Frau, ihr Moschusgeruch und die Berührung ihrer Hand existieren in meiner Welt. Sterne explodieren hinter meinen Augen, als sie in mich eindringt, und ich bin nur noch Schmerz. Am Horizont meines Seins türmt sich einer Welle auf, unaufhaltsam rollt sie auf mich zu, jede Bewegung Gaijas in mir bringt sie näher und als mich mit ihrer ganzen Sanftheit trifft, kann ich nur noch schreien.
Ich zerberste in Millionen und Abermillionen von Tropfen, jeder von ihnen gefüllt mit dem Samen eines neuen Lebens; mit all seinen Sehnsüchten, Hoffnungen und Träumen. Ich bin Lust und Schmerz, bin Freude und Trauer und ich bin unendliches Glück. Zusammengerollt wie ein Baby im Mutterleib, können mich nichts und niemand mehr in dieser Welt und auch nicht in der nächsten erreichen. Gaija beschützt mich. Wie alle ihre Kinder.
„Du hast dich bekleckert!“
Sabrina stand neben mir und ich schreckte aus meinem Tagtraum auf. Auf meiner Jeans breitete sich in Höhe des Oberschenkels ein feuchter Fleck aus. Ich blickte zu der fremden Frau hinüber. Sie lächelte, stand auf und kam zu uns herüber. Wahrscheinlich eine schlechte Idee – die Zornfalte auf der Stirn meiner Frau sprach Bände.
Beide Frauen schauten sich eine Sekunde in die Augen, dann flüsterte die Fremde Sabrina fünf Worte ins Ohr. Ich verstand sie nicht, doch sie nach der Lippenbewegung zu deuten, war nicht so schwer. Wahrscheinlich wurde ich rot.
„So ist das also“, murmelte Sabrina und blickte der Frau einen Moment hinterher. Sie fasste nach meinem Kinn, bog es nach oben, fuhr mir mit einem Fingernagel über die Wange, dass es schmerzte und ihr fast sardonisches Lächeln dabei gefiel mir überhaupt nicht. Das hatte ich bei meiner sanften Frau noch nie gesehen.
Ich wollte etwas sagen, doch herrisch presste sie mir einen Finger auf die Lippen und zischte: „Die heutige Nacht wirst du nie vergessen, das verspreche ich Dir!“
Und irgendwie schwang da ziemlich viel Wut mit ...
RGCSo April 2020