Herbstwald
Wo bist du? Ich kann nichts sehen, meine Augen sind von einer blickdichten Augenmaske bedeckt. Ich horche. Ich höre die Geräusche des Waldes. Ein knackender Ast. Das Summen der letzten Insekten. Es ist schon Herbst. Ein Vogel, der nicht weit von mir sitzt, tschiept gelassen. Ein Rotkehlchen? Vielleicht stehst du nicht weit von mir, beobachtest mich still. Ich kann es nicht feststellen. Du könntest auch weggegangen sein, mich hier zurückgelassen. Bis später, hast Du gesagt. Nachdem Du meine Handschellen abgeschlossen hast. Deine leichte Berührung an meiner Schulter war das letzte, was ich von dir gespürt habe. Dann entfernten sich deine Schritte, leicht und leise auf dem festen Waldboden. Meine Hände sind hinter dem Baum gefesselt, an dem ich stehe. Ich fasse es nicht, worauf ich mich eingelassen habe. Irgendwie war es mir klar, daß es aufregend wird, das ist ja der Kick. Die Angst, die Ungewissheit. Die Möglichkeit, du könntest mich hier einfach alleine lassen. Ich weiss, ich bin absolut sicher, daß du das nicht tun wirst. Ich habe unglaubliches, vollstes Vertrauen zu dir. Sonst hätte ich dir dieses Spiel auch nicht vorgeschlagen. Doch allein die Möglichkeit (was wäre wenn doch?) läßt mir das Herz in die Hose rutschen. Adrenalin pur. In mir tobt ein Sturm der Angst, der Unsicherheit, der Verzweiflung. Doch es gibt nichts, was ich tun kann. Ich bin verdammt, zu warten.
Ich lehne meinen Kopf an die harte, rauhe Rinde. Ich versuche, ruhiger zu atmen. Das eintönige Vogelgezwitscher, die Stille des Waldes ist etwas beruhigend. Doch das hilft nur wenig gegen die Angst in mir. Was, wenn Spaziergänger kommen? Was, wenn plötzlich Schritte auf mich zukommen? Werden sie mir helfen wollen? Wie kann ich erklären, was ich hier tue, daß es sich um ein freiwilliges Spiel handelt? Die Luft ist kühl, hier im Schatten der Bäume, doch ich bin nassgeschwitzt. Meine Handgelenke schmerzen. Doch ich kann nur warten. Wann wirst du wiederkommen?
Ich spüre einen Windhauch an meiner Wange. Ist es noch kühler geworden? Wie lange stehe ich hier schon? Fünfzehn Minuten? Eine halbe Stunde? Eine ganze? ich kann es unmöglich sagen. Der Vogel stimmt ein anderes Lied an.
Warum tue ich mir so etwas an? Es ist ein ungeheurer Kick, in dieser Ungewissheit zu warten. Will ich so etwas noch einmal erleben? Auf keinen Fall, aber frag morgen gerne wieder. Ich bin fix und fertig mit der Welt. Ich flehe still, bitte komm doch endlich wieder! Doch ich traue mich nicht, es laut auszusprechen. Ich kann nichts tun. Ich bin völlig hilflos. Ich kann nur warten und atmen.
Ich versuche, meine kreisenden Gedanken zu beruhigen, abzustellen. Meine Angst loszulassen. Entspannen. Doch das Entspannen wird schon durch die schmerzenden Unterarme erschwert. Ich beginne, mit leid zu tun. Mich zu verfluchen für diese Idee. Ich versuche, eine etwas bequemere Position für meine Hände zu finden, die Hände hinter dem Stamm nach oben zu rutschen. Doch sie tun immer noch genauso weh. Verdammt.
Endlich, nach einer Ewigkeit, höre ich deinen leichten Schritt auf mich zukommen. Warst du die ganze Zeit da, hast mich beobachtet? Zwecklos zu fragen, du wirst es mir nicht verraten. Ich spüre deine vertraute Berührung, deine Hand auf meiner linken Schulter. Deine Kontakt- und Beruhigungsgeste. Die mir Kraft gibt, die mir unendliche Erleichterung schenkt. Du stehst vor mir und hältst mich an beiden Schultern. Vor Erleichterung und Dankbarkeit kommen mir Tränen, ich halte sie nicht zurück, sie werden von der Augenmaske aufgesaugt. Du wartest bis meine Schultern nicht mehr beben, hältst mich ruhig im Arm. Du legst deine Hand in meinen Nacken und sagst leise in mein Ohr: „Ich bin stolz auf dich.“ Erst dann schliesst du die Handschellen auf.
(Fiktive Geschichte)