@ florestine
Ich finde Deinen Beitrag sehr wichtig und bin im Prinzip ganz Deiner Meinung.
Die Frage, warum das so ist, ist allerdings eine genauere Betrachtung wert: Ich gehe (nach meinen therapeutischen Erfahrungen) davon aus, dass die meisten Menschen sich wertlos fühlen - und die Erziehung in Elternhaus, Kindergarten, Schule etc., trägt ja häufig dazu bei. Der Umgang in Beziehungen später besorgt dann vollends den Rest. Ich will das mal zu erläutern versuchen:
Selbstwertgefühl ist ja etwas, das sich erst entwickeln muss und nicht in die Wiege gelegt wurde. Nun kommt der entscheidende Haken: Ich lerne, mich anzupassen, folgsam und brav zu sein, Leistung zu bringen, Erwartungen zu erfüllen usw. usw. - und werde dafür anerkannt, geliebt, geachtet.
Und ich freue mich darüber ... und frage mich, warum ich mich dennoch wertlos fühle.
Die Antwort: Da wird ja mein Wohlverhalten geachtet, anerkannt und geliebt, meine Leistung, mein Bravsein ... Aber nicht ich! Ich bin dadurch, dass ich in der Schule in Mathe eine Eins habe, zwar beliebt bei meinen Lehrern und Eltern (unter Umständen schon nicht mehr bei meinen Freunden), aber nicht, weil ich ICH bin,sondern weil ich eine Eins geschrieben habe.
Um mir meiner selbst bewusst zu werden (= Selbstbewusstsein zu entwickeln) und meinen Wert zu erkennen und zu schätzen, muss ich auch wirklich als der, der ich bin (inklusive aller meiner Fehler und Schwächen, einfach als Mensch) geachtet und wertgeschätzt werden.
(Das bedeute ja nicht, dass ich mich nicht verbessern sollte oder nicht mehr dazu lernen soll, weil ich ja so okay bin, wie ich bin - aber es hilft mir, mich als mensch, als Lebewesen geachtet, angenommen, geschätzt zu werden.)
Auch wenn ich mal Mist baue, wird zwar mein Verhalten kritisiert, aber ich als Mensch bin dennoch angenommen. Und wie machen es die meisten Eltern, Geschwister, Freunde, Lehrer etc.? "Was bist du nur für ein Volltrottel, Arschloch, Nichtsnutz ...!" - anstatt z. B. in etwa zu sagen: "Weißt du, ich mag dich sehr und du bedeutest mir viel, aber was du hier getan hast, das war einfach beschissen!"
Verstehst Du? "
Das war beschissen" und nicht "
Du bist beschissen!"
Und so lernen wir, dass wir nichts wert zu sein scheinen, es sei denn, wir bringen Leistung, verhalten uns einwandfrei, passen uns an, leben ohne Fehl und Tadel (und ohne Sünde).
Und wer kann das schon? Ich nicht, Du nicht - das kann keiner auf Dauer, wir sind Menschen und machen manchmal Fehler! Somit ist alles vorprogrammiert ...
Später, als Paar, können wir da einiges wieder gut machen, indem wir einander wirklich achten und wertschätzen. Und dann werden wir miteinander und aneinander wachsen ... Und welcher Mann geht schon wirklich immer achtsam und wertschätzend mit seiner Frau um? Und welche Frau geht schon wirklich immer achtsam und wertschätzend mit ihrem Mann um? Wir haben das ja nicht mal gelernt (siehe die oben angeführten Beispiele, wie man ein Verhalten, eine Aussage, eine Tat durchaus heftig kritisieren kann - ohne gleich den anderen in seiner Person insgesamt niederzumachen).
Geht es uns nicht allen so: Werden wir kritisiert, fühlen wir uns gleich am Boden zerstört und so, als ginge die Welt unter, weil wir nicht mehr geliebt werden.
So ein Blödsinn! Es wurde nur ein Verhalten, nur eine Tat, nur eine Aussage (oder was weiß ich) von uns kritisiert, nicht wir als Mensch. Und auch wenn jemandem etwas an uns nicht passt, bedeutet das noch lange nicht, dass er uns nicht mehr liebt.
Wenn er es aber so ausdrückt ... Was dann?
"Du kotzt mich mal wieder an mit deiner ewigen Trödelei!"
"Musst du dich immer so blöd anstellen?!"
"Sag mal, kapierst du eigentlich gar nichts!?"
"Nur wegen dir kommen wir jetzt wieder zu spät!"
"Nie kannst du dich benehmen, wenn wir zu Besuch sind! Du bist unmöglich!"
"Du bist ja so ein verdammter Vollidiot!"
Und so weiter ...
Kennen wir das nicht alle? Und mal ehrlich - ist das nicht traurig???
(Der Antaghar)