Und ich fange gleich mal an ...
... mit einer Geschichte, die mir sehr viel bedeutet - und die Euch ans Herz gehen möge.
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In Persien lebte vor etwa 2000 Jahren ein wohlhabender Herrscher, der im Gegensatz zu den meisten heute Regierenden klug, umsichtig und empfindsam war. Man nannte ihn deshalb oft und gerne „Artaban, der Weise“. Außerdem genoss er den Ruf, ein großer Heiler zu sein, was man damals auch als Magier zu bezeichnen pflegte.
Ungefähr vierzig Jahre war er alt. Seit einiger Zeit beschäftigte er sich mit spirituellen Themen. Unter anderem faszinierte ihn eine geheimnisvolle Prophezeiung. Es war ihm nämlich zugetragen worden, dass die Geburt eines besonderen Kindes bevorstehe, das eines Tages der größte aller Heiler und der Retter der Menschheit sein würde. Gemeinsam mit seien besten Freunden - Caspar, Balthasar und Melchior, die übrigens ebenfalls als weise Magier galten - hatte er beschlossen, der Sache auf den Grund zu gehen.
Ein auffallend hell leuchtender Stern solle über der Geburtsstätte des Kindes am Himmel erstrahlen, so hieß es in der Prophezeiung. Man müsse nur erstmal nach Jerusalem reisen, um dort zu dem neugeborenen Kind zu gelangen. Das wollten die Freunde gemeinsam erleben, und jeder der vier Weisen wollte dem prophezeiten Erlöser wertvolle Geschenke darbringen.
Fast jeder in seiner Umgebung hielt Artaban für total verrückt. Wie konnte ein solch weiser Mann auf einmal so töricht sein? Mit allen Mitteln versuchte man, ihn von diesem lächerlichen Vorhaben abzubringen. Besonders erschreckend erschien vielen, dass er - offensichtlich vollends dem Wahnsinn verfallen - sämtliche Ländereien und Besitztümer verkaufte und für das Geld drei ungeheuer wertvolle Kostbarkeiten erstand: einen riesigen, herrlichen Saphir, einen unglaublich großen und schönen Rubin und die prachtvollste Perle, die man jemals gesehen hatte. Alle waren so herrlich anzuschauen, dass es jedem Betrachter die Sprache verschlug. Diese drei Geschenke wollte er mitnehmen und dem prophezeiten Kind überreichen.
Schließlich erschien der angekündigte Stern tatsächlich am Firmament. Der weise König vereinbarte mit seinen Freunden, sich an einem längst festgelegten Punkt, etwa drei Tagesritte entfernt, genau um Mitternacht eines bestimmten Tages zu treffen, um die weite und gefährliche Reise durch die Wüste gemeinsam zu bewältigen. So sattelte er also sein Pferd, nahm ausreichend Vorräte mit und begab sich auf den Ritt durch seine ehemaligen Ländereien, um seine Freunde rechtzeitig zu erreichen.
Am Abend des dritten Tages, kurz vor Erreichen des vereinbarten Treffpunkts, traf Artaban in einer verlassenen Oase auf einen Mann, der sehr krank zu sein schien. Es war - nach dem Äußeren zu schließen - offensichtlich ein Hebräer, die in dieser Gegend häufig verachtet wurden und als Ausgestoßene galten. Dem Mann ging es ziemlich schlecht, und vermutlich würde er sterben, wenn er nicht rasch Hilfe erfuhr. Also zögerte der König, hatte er es doch in seinen eigenen Angelegenheiten mehr als eilig und nun wirklich keine Zeit, sich um anderes zu kümmern. Spät war er dran, hatte noch mindestens drei, vier Stunden des Weges vor sich. Er würde ohnehin kaum noch pünktlich zum Treffpunkt gelangen. Womöglich glaubten dann seine Freunde, er habe es sich anders überlegt, und ritten ohne ihn weiter.
Was tun?
Sollte er das große Erlebnis in Jerusalem opfern, nur um einem armen Hebräer zu helfen, der womöglich sowieso sterben würde? Das hehre Ziel seines Glaubens gefährden, nur um dem zu genügen, was Mitmenschlichkeit, Mitgefühl und wahre Liebe geboten? Soll nicht jeder mehr oder weniger für sich selbst sorgen können, somit auch dieser Hebräer? Aber dann nahm er sich doch des Mannes an, gab ihm zu trinken und einige kräftigende Kräuter. Mit all seiner Kunst des Heilens half er ihm. Es vergingen Stunden, bis es dem Armen endlich besser ging.
Als der Mann wieder etwas bei Kräften war, blickte er den weisen König erstaunt und dankbar an und fragte: „Herr, wer seid Ihr, dass Ihr mir helft?“
„Ich bin nur ein Heiler auf dem Pilgerpfad nach Jerusalem, zur Geburt eines weit größeren Heilers, als ich es jemals sein werde. Meine Freunde warten mit ihrer Karawane am Rand der großen Wüste auf mich, damit wir sie gemeinsam durchqueren können. Deshalb bin ich in Eile. Aber ich konnte dich doch hier nicht liegen und womöglich sterben lassen. Jetzt, da es dir besser geht, muss ich rasch weiter. Hier hast du noch etwas Brot und Wein. Auch einige heilsame Kräuter lasse ich dir da. Alles Gute, mein Freund!“
„Edler Herr“, antwortete der Hebräer, „ der Gott Abrahams segne dich. Ich habe dir leider nichts zu geben außer dem Wissen, wo dieser Heiland geboren wird. Unsere Propheten haben nämlich verkündet, dass er nicht in Jerusalem zur Welt kommt, wie es die Ältesten und Priester selbstverständlich erwarten, sondern in einem Stall bei Bethlehem. Gott schütze und führe dich, denn du bist voller Mitgefühl.“ Der König bedankte sich für diesen verblüffenden Hinweis, schwang sich auf sein Pferd und galoppierte in Windeseile zum vereinbarten Treffpunkt, doch er kam natürlich viel zu spät. Nur eine Nachricht seiner Freunde fand er noch vor, ein Stück Pergament unter einen großen Stein geklemmt. Lange hätten sie auf ihn gewartet, hieß es dort, seien dann aber schließlich ohne ihn gestartet. Falls er doch noch eintreffe, solle er ihnen einfach folgen. Verzweifelt setzte er sich auf einen Felsen und schlug die Hände vors Gesicht. Wie konnte er - allein, ohne Nahrung und mit einem erschöpften Pferd - sich auf den Weg durch die Wüste machen? Undenkbar, das käme einem Todesurteil gleich. Also blieb ihm nichts anderes übrig, als in die nächste Stadt zu reiten, um sich neuen Proviant zu besorgen, ein frisches Kamel und möglichst eine Karawane zu finden, der er sich anschließen konnte. Dafür musste er allerdings den herrlichen Saphir verkaufen.
Schließlich erreichte er Bethlehem, viele Tage, nachdem seine drei Freunde längst das Jesuskind gefunden und es mit Weihrauch, Gold und Myrrhe beschenkt hatten. Er war zwar müde von der anstrengenden Reise, aber zugleich voller Hoffnung, dem größten aller Heiler doch noch begegnen und ihm wenigstens den Rubin und die Perle als Geschenk darbieten zu können.
Auf der Suche kam er an einer Hütte vorbei, in welcher eine Frau leise sang. Er fasste sich ein Herz, klopfte an und trat ein, um sich höflich zu erkundigen, wo er den neugeborenen Heiland finden könne. Die Frau hielt gerade ein kleines Kind im Arm und sang mit leuchtenden Augen ein wunderschönes, anrührendes Lied. Das Baby blickte den Fremden offen an und lächelte dabei, als sei er ein alter Freund. Dem König wurde warm ums Herz, und er fühlte sich zutiefst berührt. Was für ein beeindruckendes Kind! Ob das der angekündigte König der Menschen war? Höflich fragte er also die Frau, ob sie etwas von der Geburt eines prophezeiten großen Heilers und seinen drei Freunden aus dem Morgenland wisse.
Sie lud ihn ein, sich zu setzen, bot ihm etwas Tee an und erzählte von den drei Fremden aus dem fernen Osten, die vor einiger Zeit hier gewesen seien. Sie hätten das besagte Kind und seine Eltern Maria und Joseph tatsächlich gefunden und reich beschenkt. Doch dann seien sie wieder fortgezogen. Auch Joseph und Maria hätten sich schon bald mit ihrem Kind auf den Weg gemacht in ein anderes Land. „Man sagt, sie seien nach Ägypten gezogen“, fügte sie hinzu, „aber keiner weiß etwas Genaues. Nur hört man immer wieder, sie seien geflohen, weil angeblich römische Soldaten kommen werden, um unsere Kinder zu töten. Aber das ist sicher Unsinn. Man weiß ja, was die Leute so reden.“
Er hörte ihr aufmerksam zu, während das kleine Kind in ihrem Arm ihn immer wieder anstrahlte und sein Herz rührte. Nun gut, dachte er, dann muss ich dem Heiland eben nach Ägypten folgen - als draußen sich plötzlich großer Lärm erhob. „Römische Soldaten!“ schrie jemand. Und ein anderer: „Die Soldaten des Herodes kommen!“ Schwerter klirrten, und der verzweifelte Ruf einer Mutter ertönte: „Helft uns! Sie töten unsere Kinder!“
Entsetzt starrte die junge Frau den Mann an und wurde kreidebleich. Sie presste ihr Baby an sich und versuchte, sich im hintersten Winkel der Hütte zu verbergen, während er vor die Tür trat. Was er sah, raubte ihm fast den Atem und drohte, sein Herz zu sprengen. Tatsächlich waren Soldaten mit blutigen Schwertern unterwegs und suchten in sämtlichen Hütten nach Kindern, um sie zu töten.
Grölend und polternd, offensichtlich trunken vor Mordlust 7nd auch sonst nicht gerade nüchtern, kamen sie schließlich zu der Hütte, vor welcher der König aus dem Morgenland mit verschränkten Armen stand. Die Soldaten stutzten, als sie den so mächtig wirkenden Fremden mit der seltsamen Kleidung erblickten. Der Anführer wollte ihn mit den Worten „Platz da!“ beiseite stoßen. Doch der rührte sich nicht von der Stelle und blickte den Mann still und mit einem sonderbaren Feuer in den Augen an. „Ich lebe hier allein“, sagte er ruhig, „und ich will diesen kostbaren Edelstein dem klugen Anführer geben, der mich und mein Haus in Frieden lässt und weiterzieht.“
Die Augen des Anführers weiteten sich beim Anblick des Rubins, und ein begehrliches Lächeln huschte über sein Gesicht. „Los, Leute!“ schrie er dann seinen Männern zu. „Weiter! Hier gibt es kein Kind!“ Er nahm den Rubin an sich und verschwand. Der weise König stand noch eine Weile vor der Tür, bis sich der Lärm der Männer in der Ferne verlor. Schließlich trat er wieder zurück in die Hütte - und fiel sofort auf die Knie. Inbrünstig schickte er ein Gebet zum Himmel: „Herr, bitte vergib mir meine Lüge, mit der ich das Leben eines Kindes gerettet habe. Aber nun habe ich bereits zwei Geschenke vertan, habe also für Menschen verbraucht, was für dich bestimmt war. Wie kann ich es jemals wert sein, dein Antlitz zu schauen?“
„Du hast das Leben meines Kindes gerettet“, sagte da die Frau mit bebender Stimme. „Möge der allmächtige Gott dich dafür segnen und dir Frieden schenken! Lasse er sein Angesicht leuchten über dir!“
Artaban aber zog weiter auf der Suche nach dem Mann, welcher der größte aller Heiler war und den man irgendwann den Sohn Gottes nannte. Wohin der König jedoch auch immer kam, es war jedes Mal zu spät, um Jesus persönlich begegnen und ihm wenigstens das letzte verbliebene Geschenk, die reinste und schönste aller Perlen, schenken zu können.
Fast dreiunddreißig Jahre später traf Artaban - noch immer auf der Pilgerfahrt seines Lebens und der Suche nach dem Christus - ein letztes Mal in Jerusalem ein. Sein langes Haar war inzwischen ergraut, und aus dem einst so stattlichen Herrscher und beeindruckenden Heiler war ein gebeugter, alter Mann geworden. Doch in seinem Herzen brannte noch immer dieses Feuer, das ihn stets angetrieben hatte und ihn nun hoffen ließ, auf seine alten Tage doch noch dem Heiland begegnen und ihm die Perle schenken zu dürfen.
An diesem Tag herrschte aufgeregtes Durcheinander in der Stadt. Jerusalem war überfüllt von Menschen, die alle nur ein Ziel zu haben schienen. Also schloss er sich einer Gruppe an und fragte, wohin es denn so eilig ginge und was hier heute los sei. „Weißt du das denn nicht?“ wunderten sie sich. „Alle gehen nach Golgatha, draußen vor der Stadt. Dort werden drei Männer gekreuzigt. Zwei Verbrecher und einer, den man Jesus von Nazareth nennt. Viele aus dem Volk, verehren diesen Mann, denn er soll zahlreiche Wunder vollbracht und zu den Menschen von Liebe und Wahrheit gesprochen haben. Dummerweise wollen die meisten nichts von wahrer Liebe wissen. Und von Wahrheit schon gar nicht. Außerdem hat er sich selbst als Sohn Gottes bezeichnet. Deshalb bestehen die Priester und die Ältesten darauf, dass er als Gotteslästerer sterben müsse. Ich glaube ja, dass sie eher um ihre Pfründe und Vorrechte fürchten, man kennt sie ja, diese Pharisäer! Doch nun hat auch noch Pilatus diesen Jesus zum Tode verurteilt, denn Jesus gibt sich dummerweise als König der Juden aus und stellt sich damit über den rechtmäßigen römischen Statthalter.“
Diese Worte berührten Artaban gar seltsam. Nun hatte er den Heiland endlich gefunden, doch der wurde abgelehnt und verfolgt! Er war sogar verurteilt worden. Hingerichtet werden sollte er. Wie das? Gottes Wege sind wahrhaftig unergründlich und manchmal mehr als sonderbar, dachte Artaban, aber so habe ich wenigstens die Gelegenheit, ihm doch noch kurz vor seinem Tod meine Perle geben zu können.
In diesem Augenblick kamen ihm Soldaten entgegen. Sie trieben ein Mädchen mit zerrissenem Kleid und wirrem Haar vor sich her. Er blickte der jungen Frau voller Mitgefühl nach. Da erkannte sie ihre Chance, riss sich los von den Soldaten und warf sich dem alten Mann zu Füßen. „Ihr seid ein Mann meines Volkes!“, schrie sie verzweifelt. Offenbar hatte sie ihn an seiner Kleidung als Perser und Heiler erkannt. „Wegen der Schulden meines Vaters soll ich als Sklavin verkauft werden und anderen Männern zu Diensten sein. Bitte, rettet mich! Rettet mich, um Gottes Willen!“
Artaban wusste nicht, wie ihm geschah. Was tun?
Immer der gleiche Konflikt, von Anfang an! Jedes Mal, wenn er endlich dem großen Heiler nahe war, kam ein Mensch in Not dazwischen!
Ist dies nun meine letzte Prüfung oder meine letzte Versuchung? So fragte er sich. Doch insgeheim war ihm längst klar: dieses Mädchen zu retten, wäre eine Tat der Menschlichkeit und Nächstenliebe. Und ist Liebe nicht das Licht der Seele? Sprach Jesus nicht auch zu den Menschen von wahrer Liebe, wie man ihm eben erst bestätigt hatte? Also nahm er die Perle, die so hell und rein strahlte wie noch niemals zuvor, und drückte sie dem Mädchen in die Hand. „Hier“, sagte er, „dein Lösegeld, um dich freizukaufen. Es ist der letzte der drei Schätze, die ich einst dem Heiland bringen wollte.“
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Noch während er dies sagt, verdunkelt sich plötzlich der Himmel und die Erde bebt. Häuser erzittern und stürzen ein. Menschen schreien und fliehen voller Schrecken. Der alte Mann und das Mädchen suchen Schutz im Eingang eines steinernen Hauses. Doch ein letzter, besonders heftiger Stoß erschüttert Jerusalem, ein herabstürzender Stein trifft Artaban schwer. Bleich und atemlos liegt er heftig blutend neben der jungen Frau, die sich entsetzt über ihn beugt. Eben noch wollte der alte Perser sie retten, und nun liegt er schwer verletzt an ihrer Seite.
Hab Geduld, alter Mann, will sie sagen, es wird alles wieder gut. Doch da hört sie verblüfft, wie er in seiner - und ihrer - Heimatsprache, dem Persischen, etwas Seltsames zu jemandem sagt, den offenbar nur er zu sehen scheint: „Nun habe ich dreiunddreißig Jahre lang nach dir gesucht, Herr. Nicht ein einziges Mal konnte ich dir zu essen geben oder zu trinken, nicht ein einziges Mal habe ich dir helfen oder dich bei mir aufnehmen können. Niemals habe ich dir gedient, ich hab ja nicht einmal dein Antlitz gesehen. Und ein Geschenk habe ich nun auch nicht mehr für dich.“
Verwundert nimmt das Mädchen wahr, wie eine seltsame Stimme ertönt, als käme sie aus weiter Ferne, kaum hörbar und doch klar und deutlich: „Wahrlich, wahrlich, ich sage dir, mein Freund: Was du für den geringsten meiner Brüder getan hast, das hast du auch für mich getan! Du bist einer der wenigen, die jemals wahrhaftige Liebe gelebt haben. Ohne jemals etwas für dich zu erwarten oder zu wollen, hast du stets gegeben. Ich heiße dich an meiner Seite willkommen.“
Ein Staunen zieht über das Gesicht des alten Mannes, und ein Glanz wie von stiller Freude legt sich darüber. Dann entweicht ihm ein letzter, langer Atemzug, als fühle er tiefe Erleichterung. Jetzt ist seine Reise zu Ende. Seine Schätze sind von Herzen angenommen worden. Artaban hat endlich zu seinem Heiland gefunden.
(Diese Geschichte wurde ursprünglich an Weihnachten 1892 von Henry van Dyke in einer Kirche öffentlich vorgetragen. Ich habe versucht, sie neu zu erzählen und in eine zeitgemäße Sprache zu übertragen, um sie den Menschen von heute näher zu bringen. Denn viele sind kaum noch bereit, für andere da zu sein und zu geben. Die meisten wollen lieber selbst etwas haben, fühlen sich selbst bedürftig haben das Gefühl, sie seien zu kurz gekommen im Leben. Wer weiß schon noch, dass Liebe nicht Nehmen ist, sondern Geben, nicht Habenwollen, sondern Schenken?)
(Der Antaghar)