Martin Suter: Melody
In Martin Suters neuem Roman "Melody" wird eine vor 40 Jahren verschwundene Frau gesucht. Eine Hauptrolle hat das Erzählen selbst, auch wenn es nur langsam Fahrt aufnimmt.
"Könnte es sein", wundert sich Tom, "dass jemand, an den man so lange intensiv dachte, tatsächlich präsent würde?" Der 30-jährige Jurist, der nach seinem zweiten Abschluss diesen absurd gut bezahlten Job in einer Zürcher Villa bekommen hat, denkt dabei nicht nur an die Geräusche, die nachts aus einem Zimmer kommen, in dem der schwer kranke Hausherr regelrechte Altare für seine vor 40 Jahren mysteriös verschwundene Geliebte eingerichtet hat. Sondern an die Obsession seines Arbeitgebers.
"Melody", der neue Roman des 75-jährigen Schweizer Erfolgsautors Martin Suter, ist halb Kaminzimmererzählung, halb Detektivgeschichte und führt auf klassisches Suter-Terrain: Das Setting ist elegant, die Hauptfigur machtbewusst und manipulativ, die Geschichte doppelbödig. Der steinreiche Peter Stotz war Politiker, hat aber noch "lieber Politiker gemacht", eine graue Eminenz der Schweiz, deren Name zum Verb für Strippenzieherei wurde. Doch nun geben die Ärzte dem 84-Jährigen noch ein Jahr, er klingelt mit Fußschaltern unter dem Teppich nach Bediensteten, hält sich zur Unterhaltung einen Autor und hat nun den bisher vom Vater gepamperten Tom damit beauftragt, seinen Nachlass zu sortieren: Geschäftsunterlagen, Zeitungsberichte, Skandale – die schlechten sollen in den Schredder, der bereinigte Rest soll seinen Ruf glänzen lassen. Es ist Toms erster Job, und er verpflichtet sich, ein Jahr in der Villa des undurchsichtigen Alten nach dessen Regeln zu leben, was bedeutet, mit dem sterbenskranken Mann ab Mittag zu saufen, wenn man das bei sündhaft teuren Armagnacs und Weinen so nennen darf. Und jeden Abend Stotz’ Geschichte seiner Geliebten zu hören, als sei darin sein wahrer Auftrag verborgen.
Stotz verfiel vor 40 Jahren der hinreißenden, zwanzig Jahre jüngeren Buchhändlerin Melody, die mit Familie aus Marokko in der Schweiz gelandet ist und ihm recht umstandslos folgt. Der Eroberer alter Schule hüllt sie in ein Brautkleid für 54.000 Francs, während sich die Familie von ihr abwendet und der radikalisierte Bruder sie wüst bedroht. Weil nur Stotz von ihr erzählt, weiß man nicht, was sie an ihm findet. Bis sie kurz vor der Hochzeit verschwindet. Wurde sie entführt? Ist sie vor den Morddrohungen der Familie geflohen, oder aus Angst vor der Hochzeit, an der Seite eines Liebhabers?
"Melody" ist der erste "echte" Suter seit sechs Jahren, in denen er seine "Allmen"-Serie weiter schrieb, als irritierend eingebetteter Biograph des Ex-Fußballers Bastian Schweinsteiger auffiel oder für den Musiker Stefan Eicher textete. Sein Millionenpublikum kann sich wieder an schlackenfrei eleganter und pointierter Prosa erfreuen, die sich mit geschliffenen Dialogen fast von selbst liest. Nur dauert es diesmal fast 200 Seiten, bis der Roman Fahrt aufnimmt. Denn trotz der mysteriösen Umschläge, geheimen Quittungen und Konten, Firmen, die "Schweigen" heißen oder rätselhafter Post aus Singapur, wirkt der Plot mit seinen klassischen Tricks etwas ungeölt – auch wenn am Ende alles sympathisch anders kommt.
Suters Bücher bauen ihre Spannungsbögen meist um ein Thema: die unheimlichen Fortschritte der Gentechnik ("Elefant"), Entgrenzung ("Dunkle Seite des Mondes"), Tamilische Einwanderer ("Der Koch"), das Gefängnis der Lebenslüge ("Lila, Lila"), Gefahren der Macht ("Montechristo"). "Melody" erinnert an "Die Zeit, die Zeit" (2012), wo ein verzweifelter Alter versucht, die Zeit zurückzudrehen vor den Tod seiner Frau. Auch in "Melody" dominiert eine Abwesende und ihre Beschwörung. Bei aller Machtbesessenheit sei Stotz im Grunde seines Herzens vor allem "ein großer, unglücklich Liebender". Meint seine Großnichte Laura, die Tom bei Recherchen hilft. Und ja, die zwei werden ein Paar, das weiß man bei der ersten Begegnung. Wirklich Profil gewinnen die beiden leider nicht.
Suters unaufdringliche Souveränität kippt mitunter ins Überinszenierte. Wenn sich der alte Opernfreund Stotz mit Melodys Bildnis vor den Kamin setzt, legt er ausgerechnet Led Zeppelins "Whole Lotta Love" auf: ein Haufen Liebe, ja gut. In der wieder filmreif ausstaffierten Luxuswelt wirkt die Bond-hafte Kennerschaft schon parodistisch: Eine Handtasche ist keine Handtasche, sondern die "Chanel 2.55, die Karl Lagerfeld 1980 neugestaltet hatte". Tom stockt beim Durchkämmen eines Schrankes von Stotz gar der Atem: "Er hielt Maßschuhe in seinen Händen." Oder sollte der junge Mann selbst so beeindruckt sein? Über weite Strecken sind alle dem alten Stotz ausgeliefert, der seine Version der Wahrheit deutlich weniger pointiert als Suter ausdrückt. Doch neben der Verschwundenen hat das Erzählen die zweite Hauptrolle. Tom und Laura setzen nach Stotz’ Ableben die Suche nach Melody fort, sie stoßen schnell auf konkurrierende Quellen und Stotz’ Version und Bild bekommen Risse. Die Geschichte könnte nun spannend zwischen Wahrheiten und Erzählungen oszillieren ("Ändert sich die Fiktion, wenn sich die Wahrheit ändert?"), doch verläuft sie bald sehr zielgerichtet. Aber nur scheinbar einfach. Denn Suter ist Herr über die Pfeile in seinem Köcher.