Ich schreibe
im Moment an einer etwas längeren Geschichte namens "Anagramm" und in ihr gibt es einen Teil von dem ich denke, dass er durchaus Beziehung zu diesem Thema hat. Wer Lust hat, kann hier ein bischen schmökern.
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"...Tenuama hatte ihren Schützling noch einen Moment beobachtet, sich dann aber langsam nach hinten sinken lassen, die Decke über sich geschlagen und wartete nun, die Augen halb geschlossen, auf eine Antwort.
Mit einer langsamen, aber entschlossenen Bewegung legte Margarita ihre Decke zur Seite, drehte sich im Liegen um ihre eigene Achse und lag jetzt mit dem Rücken an Brust und Bauch Tenuamas. Diese hatte im gleichen Moment, als Margarita mit der Bewegung begann, ihre Decke ebenfalls zurückgeschlagen, aber nur um sie anschließend wieder über die jetzt eng an sie gekuschelte junge Frau zu breiten und sie dann mit ihren Armen noch enger an sich zu drücken. Margarita fühlte die Wärme und Zuneigung der älteren Frau und sie erinnerte sich wieder an das erste und einzige Mal, als sie in diesen Armen gelegen hatte und das gab ihr die Kraft, genau an diesem Punkt zu beginnen.
„Du hast mich in all den Jahren nie gefragt, warum ich dir den Reiter als violett beschrieben habe.“ Margarita war so in ihrer Gefühlswelt gefangen, dass sie sogar die Höflichkeitsanrede gegenüber der Komtess vergaß, die sie all die Jahre immer streng eingehalten hatte. Tenuama ihrerseits stand in diesem Moment ganz gewiss nicht der Sinn danach, ihren Schützling beim Betreten der allerletzten Brücke, die sie ihm bauen konnte, zur Ordnung zu rufen.
„Nein, das habe ich nicht. Ich wusste, wie sehr es dich belastet und ich konnte dir nicht helfen. Nur du alleine kannst für dich entscheiden, ob das, was immer du mir jetzt auch erzählen wirst, für dich ein Fluch oder ein Geschenk ist. Ich konnte dir nur helfen, die Kraft in dir zu finden, diese Entscheidung selbst zu treffen und sie nicht andere für dich treffen zu lassen. Du selbst musst wissen, ob du Herr deines Lebens sein willst oder das Leben selbst bestimmt, was aus dir wird. Dann solltest du dich auch so akzeptieren, wie du bist, auch wenn es Dinge in dir gibt, die dich von anderen Menschen unterscheiden.“
Margarita dachte darüber nach und beschloss, die Frage, die jetzt in ihr hochkam, sich zu merken und sie später zu stellen. Zuerst musste die Wahrheit heraus, musste sie loswerden, was sie seit vielen Jahren quälte.
„Ich sehe Menschen wie du, mit meinen Augen. Ich kann sie riechen mit meiner Nase, fühlen mit meinen Händen und hören mit meinen Ohren. Aber da ist noch etwas. Ich kann ihre Stimmungen und Gefühle sehen. Frag mich nicht, mit welchem Organ, ich weiß es nicht. Es ist einfach da.“
„Bei allen Menschen?“
„Ja, bei jedem Menschen und auch bei Tieren. Es hängt ab von der Stärke ihrer Gefühle. Wenn jemand sehr zornig wird, ist die Farbe intensiver als wenn er sich nur ein wenig aufregt.“
„Sind es immer die gleichen Farben?“
„Falls du meinst, ob ich eine bestimmte Farbe immer dem gleichen Gefühl zuordnen kann, ist die Antwort nein. Die Menschen haben ja nicht nur ein Gefühl in einem Augenblick, sondern es sind immer mehrere und eines, manchmal auch mehrere, sind bestimmend, manchmal sind auch noch ganz schwache Gefühle weit im Hintergrund. Dann ergibt sich eine Farbkombination. Du malst doch gerne. Stell dir vor, du würdest gelb und blau im Verhältnis fünf zu eins mischen, dann käme eine andere Farbe heraus, als wenn du eins zu fünf mischen würdest. Ich kann es nicht wirklich beschreiben, nur fühlen, und das ist schon schwer genug.“
„Das heißt doch, dass dich niemand belügen kann, denn an seinen Farben siehst du immer, was richtig oder falsch ist.“
„Das habe ich auch geglaubt, bis ich einmal gesehen habe, wie jemand nicht die Wahrheit gesagt und trotzdem nicht gelogen hat.“
„Das verstehe ich nicht.“
„Es war in der Nacht der hohen Sonne vor einem Jahr. Ich stand in einer Nische des Festsaales und unser Hofmeister hatte bestimmt schon etliche Krüge Wein getrunken, als er Manuela sah. Beide schauten sich an und auch Manuela dürfte nicht mehr ganz nüchtern gewesen sein. Schließlich sagte er ihr, dass sie die schönste Frau der Welt sei und seine Farben verkündeten mir, dass er die Wahrheit gesagt hatte. Manuela ist klein, dick, hat eine krumme Nase und zwei Pickel auf der Wange. Sie ist alles andere als schön und trotzdem hatte der Hofmeister nicht gelogen.“
„Hast du darüber nachgedacht?“
Bei dieser Frage erschauerte Margarita und schmiegte sich noch enger an ihre Freundin, die ihrerseits mit einer Hand über die Haare Margaritas strich. Vielleicht fünf Minuten fiel kein Wort mehr und nur das leise Knistern des Feuers und die Geräusche des Windes im Berg waren zu hören.
„Es bestätigt dass, was du mich gelehrt hast, ich aber nicht akzeptieren wollte. Es gibt keine absolute Wahrheit über die Natur der Dinge und der Gefühle, sondern nur unsere Ansicht darüber. Für den trunkenen Hofmeister war in dem Moment, als er es aussprach, Manuela wirklich die schönste Frau. Damit war das für ihn die Wahrheit und ich habe es an seinen Farben gesehen. Für jeden anderen Mann mag das anders aussehen, aber den Hofmeister hat es glücklich gemacht.“
Es schien, als wollte sie es damit bewenden lassen doch dann musste sie doch die Frage stellen, die ihr auf der Seele brannte.
„Gibt es denn überhaupt eine für alle gültige Wahrheit? Etwas, bei dem alle Menschen das Gleiche fühlen, das Gleiche denken?“
Tenuama ließ sich Zeit mit der Antwort. Sinnend blickte sie erst zum klaren Sternenhimmel auf, nur um kurz darauf den Mund im duftenden Haar Margaritas zu vergraben.
„Seit es Menschen gibt, suchen sie die Antwort auf genau diese Frage. Selbst wenn es diese eine Antwort gäbe, müssten die Menschen sie auch verstehen wollen. Es gibt die Dinge, und es gibt die Sicht jedes Menschen darauf. So viele Menschen, wie es gibt, so viele Sichten gibt es. In Wirklichkeit noch viel mehr, denn wenn du heute satt bist, wirst du ein Stück Brot anders anschauen, als du es morgen tun wirst, wenn du wieder Hunger hast. Die Menschen nehmen etwas, kombinieren es mit ihren Erfahrungen, mit ihrem Wissen, dann kommen ihre Gefühle hinzu und erst dann ist es für den Menschen die Wahrheit. Damit kann es für keine zwei Menschen auf der Welt die eine, einzige und richtige Wahrheit geben, sondern immer nur Annäherungen im Verständnis der Dinge und im Verständnis der Menschen.“
„Warum sagst du, dass die Menschen die Antwort nicht verstehen wollen?“
„Menschen sind gefühlsbetonte Wesen. Sie geben ihren Gefühlen Raum und ihre Gefühle machen das Leben für sie erst lebenswert. Sie können das Leben aber auch zur Hölle machen und darum neigen Menschen dazu, Dinge, die sie nicht verstehen oder die ihnen Angst machen, umzudeuten oder sie einfach zu ignorieren. Andererseits gibt es Menschen, die glauben, dass Gefühle nur schaden und deshalb versuchen, ihre eigenen Gefühle zu unterdrücken – was natürlich völlig unmöglich ist, denn auch die Gefühle der Menschen sind ein Teil des Seins, sie gehören zum Menschensein, unterscheiden ihn von den Tieren und allen toten Dingen.“
Tenuama richtete sich auf und schichtete noch Holz auf das Feuer, um es am Verlöschen zu hindern. Sie legte sich wieder zu Margarita und schlang die Arme um sie. Die Zeit verging im schweigenden Miteinander, aber Tenuama wäre nicht so lange Zeit die Erzieherin des ehemals so kleinen und schwachen Mädchens gewesen, wenn sie ihr Ziel aus den Augen verloren hätte... ."