heute in Spiegel Online
S.P.O.N. - Fragen Sie Frau Sibylle
Liebe Gesundheitsapostel, ihr seid krank
Von Sibylle Berg
Ständig muss man sich fragen lassen, ob man zu viel säuft, frisst oder raucht. Der Wille zum körperlichen Wohlbefinden ist zu einem kollektiven Wahnzustand verkommen. Aber ist es wirklich meine Bürgerpflicht, meinen Leib gesund zu halten?
Als guter Bürger weiß ich, dass man zum Arzt zu gehen hat, wenn einem wohl ist, und nicht, wenn irgendetwas klappert oder heraushängt. Alle vorsorglichen medizinischen Messungen ergaben erfreuliche Resultate, mein Körper funktionierte wie eine anmutige Maschine, nur der Arzt war nicht zufrieden, als ich ihm auf seine Frage nach meinen Sportgewohnheiten mitteilte, dass ich Sport für mich ablehne, da ich es vorzöge, mich im Bett liegend zu erholen. Das Donnerwetter war unfassbar.
Gefühlte sechs Stunden musste ich mir von dem passionierten Golfer und Skifahrer anhören, wie absolut verwerflich es sei, nicht durch die Gegend zu hüpfen und seinen Körper zu stählen. Er rollte mit den Augen, ich meinte Schaum vor seinem Mund zu sehen, und seine Hände fuchtelten so erregt in der Luft, dass ich mir Sorgen um sein Herz machte.
Nun habe ich wirklich nichts gegen Hobbys, das kann ja jeder halten, wie er mag, die Menschen können Seilspringen oder Sackhüpfen, sogar Mountainbikefahrer sind mir willkommen, solange sie mir nicht durch den Garten brausen, aber: Warum muss ich es ihnen gleich tun? Oder soll ich mich erregen, weil einer meine Vorlieben nicht teilt? Hallo, Sie Verräter, Sie lesen keine Bücher und Ihr Gehirn wird schrumpeln wie eine Dörrpflaume, Sie werden Ihre Umwelt belästigen mit Ihrer Dummheit. Mache ich das?
Nein, das tue ich nicht. Ich will keinen unter Druck setzen, darum erwähne ich auch nicht die Millionen, die wir für Sportunfälle, verschlissene Gelenke und Tennisarme berappen, denn über Geld zu reden, ist so armselig. Nun übertreiben Sie nicht, junge Frau, sagt der Sportfaschist, es ist immer eine Frage des Maßes. Ja, sage ich, aber wen gehen meine Maße etwas an? Wäre es nicht früher undenkbar gewesen, reizende ältere Damen zu sportlichen Betätigungen animieren zu wollen?
Im Gefängnis der kollektiven Kontrolle
Der unbedingte Wille zur Gesundheit ist ein kollektiver Wahnzustand geworden. Mit nichts kann man so treffsicher unerfreuliche Reaktionen erzeugen, als wenn man sportliche Betätigung und scheinbar verordnete, gesunde Ernährung in Frage stellt. Und zwar nicht für andere, sondern für sich. Kein Ausrufen gegen den Papst, den Staat, das Wetter erzeugt so ungezügelten Hass, als wenn man einfach feststellt: Macht mal was ihr wollt, aber gesteht mir dasselbe Recht zu.
Es war eine kleine, angenehme Zäsur in der Geschichte, da Gesundheit kein Privileg der herrschenden Klasse mehr war. Der Mensch hatte verstanden, dass maßvolle Bewegung ihm nichts Böses tat, er schritt mit seinem Hund über Felder, trank danach einen Kräutertee, abends ein paar Gläser Rotwein, dazu rauchte er eine Zigarre. Der Mensch verstarb mit Ende siebzig, am liebsten zu Hause, beim Singen der Nationalhymne. Es gab auch zu jener Zeit Fettleibige, Säufer oder Menschen, die fünf Schachteln am Tag rauchten und sich irgendwann in gelbe Farbe auflösten, aber das war eine freie Entscheidung. Zu sterben war ein Persönlichkeitsrecht. Schlechte Zähne zu haben oder krank zu sein, dem Willen des Einzelnen überlassen, da gab es keine Volksgesundheit, kein Gewissen, keine kollektive Verantwortung, die man mit der Geburt einzulösen hatte.
Finde ich gut geschrieben.
lg Ralf