Ex Minister-Präsident Wulff
Deindividualisierung oder die Macht der MeuteAus der NZZ dot ch von heute
Der Fall Wulff ist ein unrühmliches Kapitel politischer und medialer Auseinandersetzung in Deutschland. Die wirklich heiklen Fragen tauchen erst jetzt auf. Ein Trost ist immerhin, dass die Selbstgerechtigkeit der Saubermänner bei der Bevölkerung mit sichtlicher Zurückhaltung quittiert wird.
Von Jürg Dedial
Andere führen Krieg und rotten ganze Völker aus. Deutschland hingegen leistet sich den Luxus, sich über der Harmlosigkeit seines Staatsoberhauptes wochenlang selbst zu lähmen. Während draussen in der Welt Millionen um ihr Überleben kämpfen, ihr soziales Gefüge zerbrechen sehen und Seuchen, Wirbelstürme und Schlächtereien zu erdulden haben, ergehen sich die politische Klasse und die Medien in unserem Nachbarland in eitlen Balzritualen und Empörungsexerzitien in einem Fall, der an Trivialität und Biederkeit fast nicht mehr zu überbieten ist. Wer dieses Getöse und Gezeter nun monatelang zu ertragen hatte, kann nur sagen: Gott erbarm Dich unser und lass uns gründlich darüber nachdenken, was wir der Welt für ein Schmierenstück geliefert haben. Christian Wulff, der ungelenke und glücklose Bundespräsident, ist zur Strecke gebracht worden. Damit kann man leben. Aber es wäre eine Schande, würde dieses würdelose Stück Zeitgeschichte nun mit einem «Geschafft!» zu den Akten gelegt. Jetzt gilt es erst recht, über einiges nachzudenken.
Wenn die Meute Blut geleckt hat
Schon lange hatte der Fall des deutschen Bundespräsidenten eine Eigendynamik angenommen, die mit inhaltlichen Fragen nichts mehr zu tun hatte. Letztlich ging es doch bloss um Ungeschicklichkeiten einer in der Sache überforderten Figur, hinter die man vielleicht moralische Fragezeichen setzen konnte. Persönliche Schwächen und fehlendes Fingerspitzengefühl des Bundespräsidenten mochten stören, aber die Massstäbe der Reinlichkeit und der politischen Tugend, die man an den bedrängten Amtsinhaber anlegte, hatten bald nichts mehr mit den Verhaltensnormen zu tun, die sich die deutsche Real-Gesellschaft selbst gewährte.
Hinter dem fast täglichen Theater um neue «Enthüllungen», die man kaum mehr goutieren konnte, steckte nichts anderes als der Furor einer selbstgerechten Meute, die Blut geleckt hatte. Man wollte das Opfer, auf welches man Anspruch erhob, um jeden Preis – ein fast hormoneller Mechanismus, wie ihn zur gleichen Zeit ja auch der bedauernswerte und ebenfalls glücklos agierende Oberbürgermeister von Duisburg, Sauerland, zu spüren bekam. Nur weg, war die Devise; was danach käme, interessierte nicht. Die Jagd war das Ziel der Dutzenden von Inszenierungen in diesem deutschen Drama, nach welchem man sich jetzt erschöpft zurücklehnt. Da fragt sich höchstens, ob das Amt des Staatsoberhaupts wirklich durch den Inhaber Schaden genommen hat oder nicht eher durch jene, welche ihm eine Vorbildfunktion andichteten, die es nie gehabt hat. Oder natürlich durch jene, die gar nicht Wulff beschädigen wollten, sondern dessen Mentorin, die Bundeskanzlerin höchstselbst. Interessanterweise war bis jetzt keiner der Heuchler bereit, dies zuzugeben. Ihr taktisches Schweigen hat nichts mit Anstand zu tun.
Beispiele gefällig? Wie oft hat man gehört, Wulff habe die Macht des Wortes, die ihm zu Gebote stehe und die die Würde des Amtes ausmache, nicht genutzt. Wer aber hat sich denn die Reden, die er gehalten hat, einmal angehört oder sie wenigstens nachgelesen? Waren sie wirklich so nichtssagend und bedeutungslos? Und wer vergleicht sie mit dem, was seine Vorgänger zu sagen hatten? Wenn behauptet wird, Wulff habe das Amt in singulärer Weise beschädigt, wie gross wäre denn heute die Empörung, wenn das Staatsoberhaupt Heinrich Lübke oder Karl Carstens oder auch Johannes Rau hiesse? Sie alle hatten Schatten über ihrem Amt, und selbst der für seine Reden zu Recht vielgerühmte Richard von Weizsäcker müsste heute wohl gewärtigen, dass ihn die Meute der Selbstgerechten über seine frühen Jahre richten würde, in denen er als junger Jurist seinen tief in die Hitlersche Gewaltherrschaft verstrickten Vater verteidigte. Wenn Enthüllungswut zum Selbstzweck wird, schützen keine Verdienste mehr.
Moral als unteilbares Gut
Kein Gegenstand ist zu trivial, kein Argument zu fadenscheinig, als dass die Gegner Wulffs sie nicht ausgewalzt hätten. So überrascht auch nicht, dass niemand sich heute der wirklich grossen Affären in der deutschen Nachkriegsgeschichte erinnern will, all der Amigo-Betrügereien in Bayern, der Parteispenden-Millionenskandale, der Fahrten und Flüge und tausend andern Gefälligkeiten, die – wenn man dieselben ethischen Standards anwenden würde – zur Entlassung der halben politischen Elite in Deutschland führen müssten. Und vielleicht könnten jetzt die Moralbuddhas der Medien nach geschlagener Schlacht auch einmal mit ähnlichem Drang darlegen, wie sie sich selbst vom Lockstoff all der Verlockungen und Verführungen betören lassen, denen sie als Journalisten nur allzu oft unterliegen – von Einladungen der tollsten Sorte, Reisen und Rabatten in einem Ausmass, das bei fast allen andern Erwerbszweigen die Schamröte hochtriebe. Wer derart exponiert im Glashaus der Tugend sitzt, sollte sehr vorsichtig mit Anschuldigungen umgehen. Eigenartig, wie viele Augen da plötzlich blind sind.
Der Fall Wulff ist ein unrühmliches Kapitel politischer und medialer Auseinandersetzung in Deutschland. Ein Trost ist immerhin, dass die Selbstgerechtigkeit der Saubermänner bei der Bevölkerung mit sichtlicher Zurückhaltung quittiert wird. Man spürt in den Niederungen des glanzlosen Alltags wohl eher, wo die Grenze zwischen echten und bloss angeblichen Missständen liegt. Und man fühlt auch, dass mit moralischen Ansprüchen nicht gespielt werden sollte.
Von Jürg Dedial
Andere führen Krieg und rotten ganze Völker aus. Deutschland hingegen leistet sich den Luxus, sich über der Harmlosigkeit seines Staatsoberhauptes wochenlang selbst zu lähmen. Während draussen in der Welt Millionen um ihr Überleben kämpfen, ihr soziales Gefüge zerbrechen sehen und Seuchen, Wirbelstürme und Schlächtereien zu erdulden haben, ergehen sich die politische Klasse und die Medien in unserem Nachbarland in eitlen Balzritualen und Empörungsexerzitien in einem Fall, der an Trivialität und Biederkeit fast nicht mehr zu überbieten ist. Wer dieses Getöse und Gezeter nun monatelang zu ertragen hatte, kann nur sagen: Gott erbarm Dich unser und lass uns gründlich darüber nachdenken, was wir der Welt für ein Schmierenstück geliefert haben. Christian Wulff, der ungelenke und glücklose Bundespräsident, ist zur Strecke gebracht worden. Damit kann man leben. Aber es wäre eine Schande, würde dieses würdelose Stück Zeitgeschichte nun mit einem «Geschafft!» zu den Akten gelegt. Jetzt gilt es erst recht, über einiges nachzudenken.
Wenn die Meute Blut geleckt hat
Schon lange hatte der Fall des deutschen Bundespräsidenten eine Eigendynamik angenommen, die mit inhaltlichen Fragen nichts mehr zu tun hatte. Letztlich ging es doch bloss um Ungeschicklichkeiten einer in der Sache überforderten Figur, hinter die man vielleicht moralische Fragezeichen setzen konnte. Persönliche Schwächen und fehlendes Fingerspitzengefühl des Bundespräsidenten mochten stören, aber die Massstäbe der Reinlichkeit und der politischen Tugend, die man an den bedrängten Amtsinhaber anlegte, hatten bald nichts mehr mit den Verhaltensnormen zu tun, die sich die deutsche Real-Gesellschaft selbst gewährte.
Hinter dem fast täglichen Theater um neue «Enthüllungen», die man kaum mehr goutieren konnte, steckte nichts anderes als der Furor einer selbstgerechten Meute, die Blut geleckt hatte. Man wollte das Opfer, auf welches man Anspruch erhob, um jeden Preis – ein fast hormoneller Mechanismus, wie ihn zur gleichen Zeit ja auch der bedauernswerte und ebenfalls glücklos agierende Oberbürgermeister von Duisburg, Sauerland, zu spüren bekam. Nur weg, war die Devise; was danach käme, interessierte nicht. Die Jagd war das Ziel der Dutzenden von Inszenierungen in diesem deutschen Drama, nach welchem man sich jetzt erschöpft zurücklehnt. Da fragt sich höchstens, ob das Amt des Staatsoberhaupts wirklich durch den Inhaber Schaden genommen hat oder nicht eher durch jene, welche ihm eine Vorbildfunktion andichteten, die es nie gehabt hat. Oder natürlich durch jene, die gar nicht Wulff beschädigen wollten, sondern dessen Mentorin, die Bundeskanzlerin höchstselbst. Interessanterweise war bis jetzt keiner der Heuchler bereit, dies zuzugeben. Ihr taktisches Schweigen hat nichts mit Anstand zu tun.
Beispiele gefällig? Wie oft hat man gehört, Wulff habe die Macht des Wortes, die ihm zu Gebote stehe und die die Würde des Amtes ausmache, nicht genutzt. Wer aber hat sich denn die Reden, die er gehalten hat, einmal angehört oder sie wenigstens nachgelesen? Waren sie wirklich so nichtssagend und bedeutungslos? Und wer vergleicht sie mit dem, was seine Vorgänger zu sagen hatten? Wenn behauptet wird, Wulff habe das Amt in singulärer Weise beschädigt, wie gross wäre denn heute die Empörung, wenn das Staatsoberhaupt Heinrich Lübke oder Karl Carstens oder auch Johannes Rau hiesse? Sie alle hatten Schatten über ihrem Amt, und selbst der für seine Reden zu Recht vielgerühmte Richard von Weizsäcker müsste heute wohl gewärtigen, dass ihn die Meute der Selbstgerechten über seine frühen Jahre richten würde, in denen er als junger Jurist seinen tief in die Hitlersche Gewaltherrschaft verstrickten Vater verteidigte. Wenn Enthüllungswut zum Selbstzweck wird, schützen keine Verdienste mehr.
Moral als unteilbares Gut
Kein Gegenstand ist zu trivial, kein Argument zu fadenscheinig, als dass die Gegner Wulffs sie nicht ausgewalzt hätten. So überrascht auch nicht, dass niemand sich heute der wirklich grossen Affären in der deutschen Nachkriegsgeschichte erinnern will, all der Amigo-Betrügereien in Bayern, der Parteispenden-Millionenskandale, der Fahrten und Flüge und tausend andern Gefälligkeiten, die – wenn man dieselben ethischen Standards anwenden würde – zur Entlassung der halben politischen Elite in Deutschland führen müssten. Und vielleicht könnten jetzt die Moralbuddhas der Medien nach geschlagener Schlacht auch einmal mit ähnlichem Drang darlegen, wie sie sich selbst vom Lockstoff all der Verlockungen und Verführungen betören lassen, denen sie als Journalisten nur allzu oft unterliegen – von Einladungen der tollsten Sorte, Reisen und Rabatten in einem Ausmass, das bei fast allen andern Erwerbszweigen die Schamröte hochtriebe. Wer derart exponiert im Glashaus der Tugend sitzt, sollte sehr vorsichtig mit Anschuldigungen umgehen. Eigenartig, wie viele Augen da plötzlich blind sind.
Der Fall Wulff ist ein unrühmliches Kapitel politischer und medialer Auseinandersetzung in Deutschland. Ein Trost ist immerhin, dass die Selbstgerechtigkeit der Saubermänner bei der Bevölkerung mit sichtlicher Zurückhaltung quittiert wird. Man spürt in den Niederungen des glanzlosen Alltags wohl eher, wo die Grenze zwischen echten und bloss angeblichen Missständen liegt. Und man fühlt auch, dass mit moralischen Ansprüchen nicht gespielt werden sollte.