E s gibt Sätze, die schreibt einer hin, weil er weiß, was er sagen will, und über die nötigen Begriffe verfügt. Es gibt Sätze, die sind ihrem Schreiber eher unterlaufen, und ihr Sinn enthüllt sich erst, wenn man sie gegen die Intentionen des Autors liest. Und es gibt Sätze wie diesen hier, den ersten Satz der vermeintlichen Enthüllungsgeschichte über Rainer Brüderle, Sätze, die scheinbar ganz einfach sind, und je genauer man sie sich anschaut, desto rätselhafter wird ihr Sinn.
“Für mich ist es nicht immer angenehm, 29 Jahre alt zu sein, eine Frau und Politikjournalistin.“ Ja, denkt sich da der Leser, der die folgenden Sätze noch nicht kennt, das Sein ist eine Bürde, die pure Existenz oft genug eine Zumutung, und weil der Mensch sich selbst ja oft genug die größte Last ist, möchte man sagen: für mich auch nicht, für mich ganz und gar nicht - bis einem einfällt, dass man nicht 29 Jahre alt ist, keine Frau und kein Politikjournalist.
Was aber das Sein der Journalistin Laura Himmelreich zur Zumutung macht, das erläutert der zweite Satz: „Das liegt an Männern wie Rainer Brüderle.“ Womit dieses seltsam überflüssige und zugleich nach existentiellem Pathos klingende „für mich“ einen ganz handfesten Sinn bekommt. Für die Autorin ist es nicht angenehm, 29 Jahre und eine Frau zu sein, für andere aber schon, und diese anderen sind Männer wie Rainer Brüderle. Und damit kein Missverständnis entsteht, zeigt der „Stern“ direkt neben diesem Satz ein Foto der Autorin, auf welchem sie so nett und brav und harmlos in die Kamera schaut, dass an der Lauterkeit ihrer Erzählung gar kein Zweifel möglich ist.
Wer quatscht wen an?
So also ist dieser Artikel intoniert; was auf den ersten Blick wie ein holpriger und redundanter Satzbau und übertrieben eitle Bebilderung wirkt, ist in Wirklichkeit dazu da, die Rollen von Anfang an festzulegen. Die junge Frau ist das Opfer, der alte Mann der Bösewicht - und genau so haben den Bericht von Laura Himmelreich selbst jene gelesen, die dem „Stern“ dann vorwarfen, dass er ein Jahr mit der Veröffentlichung gewartet und dann die ganze Sache aufgebauscht habe: Rainer Brüderle, der Fraktionsvorsitzende der FDP, habe vor einem Jahr, in der Nacht vor dem Dreikönigstreffen, in einer Stuttgarter Hotelbar die Journalistin ziemlich dumm und sexistisch angequatscht.
Das Gegenteil steht aber drin in der Geschichte des „Sterns“: Es ist Mitternacht, an der Bar nehmen Politiker und Journalisten zusammen noch ein Getränk - und um die soziale und kommunikative Struktur dieses Beisammenseins richtig einzuschätzen, muss man wissen, dass ein guter Journalist einen guten Bericht übers Dreikönigstreffen schreiben kann, ganz ohne dass er nachts noch an der Bar herumhängen müsste. Auf den Pressekonferenzen, bei den Gesprächen am Rande des Parteitages, bei jedem offiziellen Interview sind die Regeln klar und die Rollen präzise festgelegt
W er um Mitternacht an die Bar geht, weiß, dass jetzt andere Regeln gelten und ein Spiel gespielt wird, bei dem man auch verlieren kann. Was da besprochen wird, ist nicht mehr nur professionell und noch längst nicht privat, die Regeln sind nicht festgelegt, sondern werden situativ ausgehandelt, und der Einsatz besteht darin, dass beide Seiten jene Distanz aufgeben, welche sie normalerweise voreinander schützt.
Die Journalisten hoffen, hier etwas über den sogenannten Menschen hinter der Rolle zu erfahren, was sie nicht schon aus Pressekonferenzen und Parteiprogrammen wissen. Die Politiker zeigen genau diesen Menschen vor, in der Hoffnung, dass sie dabei sympathischer, intelligenter, charmanter wirken, als wenn sie im Interview ihre Floskeln herunterratterten. Und weil fast immer Alkohol im Spiel ist, verunglückt manchmal dieses Spiel, und am nächsten Morgen wachen beide auf, die Politiker und die Journalisten, und bereuen heftig die Verbrüderung. Und mancher schwört sich dann, an diesem Spiel nicht mehr teilzunehmen.
Laura Himmelreich spielt aber mit, und sie ist es auch, die den ersten Zug macht. Brüderle, genau so ist es im „Stern“ zu lesen, steht an der Bar und hat ein Glas Weißwein in der Hand, als die junge Frau ihn anspricht: „Ich möchte von ihm wissen, wie er es findet, im fortgeschrittenen Alter zum Hoffnungsträger aufzusteigen.“
Was wäre die Antwort?
Klingt ja ganz normal, diese Frage, stellt sich an jedem Stammtisch, der sich noch für die FDP interessiert - und ist doch zugleich, wenn man sie beim Nennwert nimmt, so unpolitisch, dass man sich beim Lesen fragt, ob es für solche Sätze beim „Stern“ ein Politikressort braucht.
Dass der Satz mehr ist, dass er eine Provokation und eine grobe Unhöflichkeit ist, das merkt man, wenn man sich noch einmal die Situation vor Augen führt. Es ist Mitternacht, es ist das Ende eines Tages, der für FDP-Leute sehr anstrengend war, und der Fraktionsvorsitzende, den man für kein politisches Genie halten muss, um seine Würde zu respektieren, trinkt ein Glas Wein, das er sich ganz bestimmt verdient hat. Und dann kommt, wie es der „Stern“ beschreibt, eine ernste junge Dame, die, statt ein bisschen Smalltalk zu betreiben, ihm eine sehr ernste Frage stellt. Was soll Brüderle ernsthaft antworten, wenn er nicht in die Defensive geraten will: Dass er zum Yoga geht? Dass ihm sein Arzt bescheinigt habe, wie gesund er sei? Dass er auch nach dem dritten Glas Weißwein weiß, wie die Hauptstadt von Obervolta heißt?
Hätte Brüderle die einzig angemessene Antwort gegeben, dass er nämlich keine Lust habe, zu dieser unernsten Zeit eine ernste Frage zu beantworten, hätte er ja den Befund der Journalistin, der sich nur als Frage tarnt, bestätigt: armer, alter Mann, zu schwach, mit einer jungen Frau auch nach Mitternacht noch zu diskutieren
Und genau darum geht es, wie jeder weiß, der den Feminismus ernst nimmt. Sexismus ist kein Problem des Begehrens, der Erotik, der Sexualität. Sexismus ist ein Problem der Macht, und es ist die Reporterin, die das Machtspiel beginnt. Wie finden Sie es, im fortgeschrittenen Alter zum Hoffnungsträger aufzusteigen? Diese Frage heißt nichts anderes als: Zeigen Sie mir, dass sie nicht zu alt und also zu schwach, zu müde, zu verbraucht sind! Ich darf Sie das fragen, denn ich bin jung und also stark, wach und unverbraucht.
Einem 28-jährigen Mann, der eine solche Frage einer 66-jährigen Frau stellte, würde man heimlich ein paar hinter die Löffel wünschen, und sagen würde man zu ihm: Halt die Klappe, Grünschnabel, und lern erst mal, dich zu benehmen! Was natürlich nichts daran ändert, dass man mit Frauen, die man nicht kennt, nicht über die Frage, ob ihnen ein Dirndl stünde, diskutieren sollte. Weder morgens noch mitternachts
Quelle:
http://www.faz.net/aktuell/f … eder-in-waffen-12040794.html