Flirtlines sind out? Warum eigentlich?

Anfang der 0er Jahre war das Angebot an Telefon-Flirtlines umwerfend. Unendlich lange Nummernreihen, bunt bebildert und eindeutig beworben in den Werbeblöcken auf den privaten Kanälen nach 24 Uhr. Ich denke, jeder erinnert sich an „Ruf mich an!“, das Peitschenknallen und weitere eher schräge Plattformen, die allerdings ein klar gestecktes Ziel verfolgten. Das Internet ruckelte noch. Die Telekommunikationstechnik war auf ihrem akustischen Höhepunkt. Konferenzschaltungen, Sprachnachrichten und Zufallsverbindungen ermöglichten ein lustzentriertes Wunderland für den Stimmen-aficionado des jungen 21. Jahrhunderts. Ich spreche nicht von „gefährlichen“ professionellen 0900er-Nummern, sondern von Flirtlines mit 0180x-Nummer, bei denen sich Frauen kostenlos einwählen durften. Der Mann finanzierte quasi den Kontakt, die Frau wählte aus. Je nach Wochentag und Uhrzeit kam es zu mehr oder weniger bizarren Begegnungen, deren sexuelle Erfüllung nur durch den Klang und den Einsatz der Stimme, die Kommunikationsfähigkeit, Phantasie und den geilen Ideenreichtum beeinflusst wurde. Ein kurzer Tastendruck und die Verbindung wird geschlossen, die Nachricht versendet. Gefallen oder Missfallen anhand eines einzigen Parameters. Ein schönes Spiel, das ich vermisse. Erlebnisse und Spielgeschichten, die mir fehlen. Dirty Talk par excellence! Und deutlich amüsanter als Tastenwichsen und sich von Profis im Videochat anmachen zu lassen, war es auch. Of course, mit real-life hat das nichts zu tun. Aber sehr viel mit spontan schneller anonymer Befriedigung, mit verbalem Abreagieren, mit dem Abenteuer der Kontaktaufnahme im Halbdunkel mit Frauen, Männern, Paaren, die genau dem gleichen Impuls gefolgt sind. Die Uhr tickt. Heftig geäußerte Geilheit, ohne sich groß erklären zu müssen. Schön oder hässlich, dick oder dünn, blond oder brünett? Vollkommen egal, wenn deine Stimme überzeugt.
Mittlerweile wirken Telefon-Flirtlines anachronistisch. Das Angebot hat sich bis auf einen Anbieter eingeschränkt. Es kriechen kaum interessante Stimmen und noch weniger schmutzige Angebote und Wünsche über den Äther. Was ist passiert? Wie kann es sein, dass eine derart perfekte Befriedigungsmaschine innerhalb weniger Jahre komplett abschmiert? Dass sogar die wenigen professionellen Telefonistinnen durch Bandaufnahmen ersetzt wurden? Einzig der Sonntag scheint bisweilen bei wenigen „Bekannten“ noch für ein frivoles Telefonat genutzt zu werden. Es wäre mir ein Anliegen diesen Missstand zu verändern! Ein visuell aufgebohrtes Internet mit viel zu vielen Informationen sollte dem simplen Eindruck von schöner Stimme und Phantasie eigentlich nichts entgegensetzen können. Manchmal ist die Lust wesentlich spannender, wenn man nur auf einen Sinn reduziert ist und z.B. in den Hintergrund hineinhören muss, um ein Phantasiebild zu komplettieren.
Also, anscheinend habe ich die Entwicklung verschlafen und bin still 20th century. Vielleicht könnt ihr mir erklären, was state oft the art ist? Wie sich Flirtlines im 21. Jahrhundert weiterentwickelt haben. Wahrscheinlich ist Telefonieren einfach nur langweilig, sinnentleert, nicht echt, knallt nicht? Vielleicht muss erst ein Bestseller über Telefon, Stimmen und Lustbefriedigung geschrieben werden, damit sich etwas ändert? Oder mein Anliegen ist einfach nicht mehr salonfähig.