Der letzte Zeuge
Das regennasse Frühjahr erhielt Einzug, und mit ihm Jehova. Unlängst standen seine Zeugen vor der Tür, ein schmächtiger Junge um die 25, in Begleitung einer matronenhaften Gleichaltrigen. Es entspann sich ein Dialog, der sich im Nachhinein als nützlich erweist zu verdeutlichen, dass die Vermutungen richtig sind, dass ich offline genauso unangenehm bin, wie es online den Anschein hat. Hier der letzte Bekehrungsversuch als Lehrstück:Es treten auf:
Thurisaz - das bin dann wohl ich
MZ - Männlicher Zeuge
WZ - Weiblicher Zeuge
Türklingel: "Driiiiing". Thurisaz, barfuß und in lange Schlunzhosen gewandet, öffnet die Tür, tritt heraus und schließt die Tür vorsorglich hinter sich.
[Es handelt sich dabei um eine alte Angewohnheit. Sie entstammt jener dunklen Zeit, als eine Geheim- und Terrororganisation namens GEZ unterschiedslos Jagd auf Staatsbürger machte - insbesondere auch auf jene, die wie ich gar kein Fernsehgerät besitzen. Wie man den Deutschen jedoch nachsagt, sie bauten aus jeder Konservenbüchse nach Belieben einen Panzer, so argwöhnte die GEZ, dass selbst das kleine Häuflein TV-Abtrünniger irgendwelche Medien auf dunklen Wegen konsumiert, für die der moderne Raubritter einen Zoll verlangen könnte. Sie argwöhnte zu recht - ich besaß ein radiofähiges Mobiltelephon. Allerdings wies ich den letzten Frachtpiloten, der auf GEZ-Kontrolleur umgeschult hatte, darauf hin, dass das Prinzip ungefähr so sei, als führe ich mit einem Lautsprecherwagen durch die Stadt, spielte ungefragt meine unsäglich schlechten Gesangsdarbietungen ab und klingelte danach an jedem Haus, um für den Konsum dieser fragwürdigen Kultur Geld zu verlangen.]
MZ, sich die Treppe hochquälend und sich ans Geländer klammernd, einen Sicherheitsabstand zur Wohnungstür einhaltend: "Guten Tag. Haben Sie zufällig Interesse, über Religion zu reden, oder ist das derzeit eher nicht aktuell?"
Thurisaz: "Eher nicht aktuell. Ich bin aus der Kirche ausgetreten."
MZ: "Das macht nichts. Es geht ja auch im Religion, nicht um die Kirche."
Thurisaz, einen Blick auf WZ werfend, die keuchend hinter MZ auftaucht: "Ach was."
MZ, eifrig werdend: "Jaja, genau. Wir möchten mit Ihnen nämlich über Gott reden."
Erwartungsvolles Schweigen erfüllt das Treppenhaus.
WZ, aus der Deckung soufflierend: "Viele fragen sich ja ..."
MZ: "Viele fragen sich ja, wie das denn mit Gott und der Religion ist, bei all dem Leid auf der Welt. Ob es da Religion überhaupt geben kann."
Thurisaz: "Selbstredend kann es da Religion geben."
WZ: "Und Gott. Ob es Gott geben kann, wenn man sich das Leid so anschaut."
Thurisaz, sinnierend: "Es gibt dafür doch diesen wissenschaftlichen Ausdruck."
MZ, verwirrt: "Für Gott?"
Thurisaz, schmatzend: "Nein."
WZ, aufzeigend: "Für Religion, richtig?!"
Thurisaz: "Wieder falsch."
Thurisaz lässt den Zeugen Zeit, sich zu sammeln und die richtige Antwort zu geben. Schweigen.
Thurisaz, nach einer Weile, ermutigend: "Theodizee. Das ist das gesuchte Wort."
MZ und WZ starren erst Thurisaz, dann sich gegenseitig, dann wieder Thurisaz an.
Thurisaz, süffisant: "Theo-di-zee. Für das, was Sie schildern, gibt es bereits einen Begriff: das Theodizee-Problem."
MZ: "Sie meinen, für Gott?"
WZ, rasch anschließend: "Sie meinen, für die Religion?"
Thurisaz, gütig: "Für das Problem, wie Gott sein kann, wenn es all das Leid gibt, das er entweder verursacht hat oder das er zumindest zuzulassen beliebt."
MZ: "Ja, das fragt man sich."
WZ: "Ja, das fragen sich ganz viele Leute in der heutigen Zeit, angesichts der heutigen Zeit."
Thurisaz: "Nun ja, da sind sie nicht die ersten. Ich erinnere nur an die Denker, die sich mit der Theodizee schon vor langer Zeit auseinandersetzen: Augustinus, Thomas von Aquin, Descartes, um nur einige zu nennen."
MZ, erstaunt: "Ach?"
Thurisaz: "Ganz recht. Das Problem ist nicht gerade neu."
WZ: "Und wie hieß das nochmal?"
Thurisaz: "Theodizee."
MZ: "Davon habe ich noch nie gehört."
WZ: "Ich auch nicht."
Thurisaz: "Sehen Sie, so haben Sie heute schon etwas gelernt, was Ihren Besuch gelohnt hat. Schlagen Sie den Begriff einfach mal nach."
MZ und WZ nicken.
MZ: "Das ist ja ein Ding."
Thurisaz: "Glauben Sie mir, wenn ich Ihnen sage, dass es eine Verschwendung Ihrer und meiner Zeit wäre, wenn wir uns jetzt zusammensetzten und über die Theodizee sprächen."
MZ und WZ nicken. MZ dankt und wendet sich zum Gehen.
WZ: "Darf ich Ihnen zumindest ein Faltblatt dalassen?"
Thurisaz, generös: "Sicher dürfen Sie das. Immer her damit. Agnostiker sind für jede weiterführende Info dankbar."
Mit langem Arm überreicht WZ ein Pamphlet der Firma Watch Tower, Pennsylvania. Auf der Titelseite Fragen, die der Mensch sich stelle: 'Gibt es Gott?' 'Was geschieht beim Tod?'
Thurisaz erwägt, speziell über Letzteres mit den beiden zu diskutieren, verwirft den Gedanken aber aus Barmherzigkeit. Abgang der etwas abgespannten Zeugen. Thurisaz verschwindet in der Wohnung, wehmütig an die Mormonen denkend, die er unjüngst zum Tee hineingebeten hatte.