Die Geschichte der O in meinen Augen
„Und doch, genau wie diejenigen Teile ihres Körpers, die am meisten geschändet wurden, noch empfindungsfähiger geworden waren, so schienen sie ihr auch schöner geworden, veredelt: ihr Mund, der das Geschlecht eines Unbekannten umschloß, die Spitzen ihrer Brüste, die ständig von fremden Händen berührt wurden, die Zugänge ihres Leibes zwischen ihren gespreizten Schenkeln, Wege, die jeder benutzen, jeder nach Laune zerwühlen konnte.Unglaublich, daß sie an Würde gewannen haben sollte, weil sie prostituiert wurde, und doch stimmt es.“
Dieses Zitat aus „Der Geschichte der O“ scheint mir den Sinn dieser aufregenden Erzählung besonders gut zu treffen. Eine Frau, die aus Liebe und oder vielleicht doch wegen ihrer natürlichen Neigung prostituiert und dadurch an Würde und Weiblichkeit gewinnt. Und dabei gerät ihr eigenes Leben ins Chaos und sie befindet sich in einer gewalttätigen Fantasiewelt, in der sie sich völlig unterwirft und auf ihr eigenes Ego verzichtet. Dabei werden viele Fragen aufgeworfen. Und jeder von uns, der ähnliche Neigungen und Bedürfnisse hat, soll sie für sich selbst beantworten.
Wenn man sich für die SM-Welt auch nur oberflächlich interessiert, stoßt man schnell auf „Die Geschichte der O“. Dieser Roman, vor mehr als einem halben Jahrhundert geschrieben, prägt weiterhin Fantasien und Neigungen von vielen Menschen.
Unglaublich, dass er in den 1950er Jahren von einer Frau verfasst wurde, die äußerlich einen völlig normalen, bürgerlichen Lebensstil pflegen sollte. Dominique Aury war in Frankreich als Schriftstellerin und Intellektuelle bekannt, sie saß in französischen Literaturgremien, ihre Kleidung wurde von ihren Bekannten und Angehörigen als weiblich dennoch konservativ und unauffällig bezeichnet. Kaum jemand konnte daran glauben, dass sie tatsächlich diejenige war, die diese Explosion von der öffentlichen Moral in Form eines Buches anstiftete, das jenseits der gesellschaftlichen Sitten stand.
In ihrem Inneren lauerte jedoch inbrünstiges Feuer … für ihren langjährigen geheimen Geliebten Jean Paulhan, der ebenfalls ein bekannter französischer Schriftsteller und Intellektueller war. Und darüber hinaus ein Genießer und Herzensbrecher, mit Ausstrahlung und Charisma. Sie war verliebt und verfasste „Die Geschichte der O“, um ihm ihre Liebe und ihre besonderen Qualitäten zu beweisen, die er kaum bei einer anderen Frau auffinden könnte.
Den wenigsten Zeitgenossen war bekannt, wer für die Entstehung von diesem kontroversen, zügellosen und durch und durch lasterhaften Buch zuständig gewesen war. Vermutlich wusste es ihr Geliebter, da er es in seinem Vorwort zur ersten Veröffentlichung als den „heftigsten Liebesbrief, den ein Mann je erhalten hat“ anpries. Und in der Tat schien er davon überzeugt zu sein, da das Liebesverhältnis noch jahrelang andauerte, bis Ende seines Lebens… Jedoch ließ er sich nie scheiden und aus der Affäre ist nie eine richtige Beziehung geworden.
Als „netter Nebeneffekt“ ist der Name von Dominique Aury in der Geschichte geblieben, ihr Pseudonym war Pauline Réage.
Die Hauptprotagonistin trägt keinen vollständigen Namen, sie wird als O genannt. Vermutlich steht das „O“ für ein „Objekt“. Dieser weibliche Charakter wird demnach entpersonalisiert und objektiviert, er ist ein Inbegriff von einer Frau, die von sich selbst ihre Freiheit aufgibt und zu einem Spielzeug der männlichen sexuellen Begierde wird. Völlig losgelöst von Raum, Zeit und Lebensumständen. Man würde nie auf die Idee kommen, zu welchem Zeitalter diese unglaubliche Geschichte gehört, sie ist zeitlos. Sie könnte sich in einer römischen Villa, auf einem mittelalterlichen Schloss oder auf einem zeitgenössischen luxuriösen Anwesen auf Mallorca oder in Kalifornien zutragen. Nur anhand weniger Merkmale, wie z.B der Existenz vom Telefon, Nylonstrümpfen, der Elektrizität, Autos, sowie dem Nichtvorhandensein von der Internetverbindung, kann man sie einigermaßen zeitlich zuordnen. Abgesehen davon ist sie universell und richtet sich ausschließlich auf das Innenleben von einer weiblichen, sehr leidenschaftlichen und feinfühligen Person.
Die Erzählung ist in einer eher nüchternen und sachlichen Sprache gehalten, und dies verleiht dem Geschehenen, das jenseits aller Normen steht, eine gewisse Normalität und Selbstverständlichkeit. Es fängt damit an, dass O an einem späten dunklen kalten Abend, in einem menschenleeren Park in Paris, in ein fremdes Auto zusammen mit ihrem Geliebten René einsteigt. Er entfernt ihren BH, indem er seine Träger mit einem Messer durchschneidet, weist sie ausdrücklich an, ihr Höschen und ihren Strumpfträger auszuziehen, ihre Nylons bis hin zu Knien herunterzurollen und mit Strumpfbändern fest zu machen. Dabei bleibt sie gelassen, stellt keine einzige Frage und übergibt ihm die volle Kontrolle über ihr Leben. „… Deine Tasche? Nein, du brauchst deine Tasche nicht mehr. Du bist weiter nichts als das Mädchen, das ich anliefere. Doch, doch, ich werde dort sein. Geh!“ sagt er ihr zum Abschied.
Mit diesen Worten wertet er diese stolze und intelligente Frau zu einem einfachen Straßenmädchen ab. Und dabei wissen wir nicht einmal, ob er dies ernst meint oder ob es ein Spiel ist. Wir wissen auch kaum, wie sich die Liebesgeschichte davor entwickelt hatte. Aber eins ist nun klar. Diese emanzipierte Frau, eine erfolgreiche Pariser Fotografin, die früher mit Männergefühlen gespielt und Männer um ihre gepflegten Finger gewickelt hatte, befindet sich nun in einer Falle. Und sie hat kaum Bedürfnis, sich zu wehren. Im Gegenteil, fliegt sie wie eine Motte aufs Licht.
In diesem Auto, mitten in der Nacht, wird sie ins Schloss Roissy gebracht, in dem sie sofort von einer Männergruppe vergewaltigt und brutal ausgepeitscht wird. Dort wird sie zwei Wochen lang festgehalten, gezüchtigt, von den Schlossherren und Dienern geschlagen und missbraucht. Jeder kann sie überall und jederzeit nehmen. Samt aller anderen Frauen, die sich dort aufhalten, soll sie einen besonderen Rock tragen, der sich sowohl vorne als auch hinten leicht schieben lässt, und auch ein eng geschnürtes Korsett, Ledermanschetten und Halsband. Niemals darf sie einen von den Männern anschauen, ihr Blick bleibt stets nach unten gerichtet. Während sie missbraucht wird, bleiben ihre Augen verbunden, und sie kann nicht wissen, wer sich gerade in ihren Körper eindringt. Freiwillig wird sie zu einer öffentlichen Hure, die keine eigene Meinung haben darf. Kein einziges Wort darf sie an ihre Peiniger richten. „A propos, wenn Sie während der Dauer Ihres Aufenthalts die Peitsche regelmäßig alle Tage bekommen, so geschieht da nicht so sehr zu unserem Vergnügen, als vielmehr zu ihrer Belehrung,“ bekommt sie gesagt und wird täglich gnadenlos geschlagen. Ihre Haut ist stets von blutigen Striemen bedeckt.
Kein einziges Mal wagt sie es, aus Liebe zu ihrem Geliebten René, zu widersprechen. Oder vielleicht doch wegen ihrer eigenen, tief verankerten Neigung, die ihr bis dahin noch nicht bewusst war und die sie sich nicht eingestanden hat. Nach zwei Wochen wird sie, maßgeblich missbraucht, ausgepeitscht, erniedrigt und bestraft, entlassen und bald von René an seinen deutlich älteren Halbbruder, dem Engländer Sir Stephen, übergeben. Und schon wieder leistet sie keinerlei Widerstand und fügt sich ihrem Schicksal. Ihr neuer Herr ist deutlich strenger als ihr ehemaliger Geliebter, er benutzt sie ohne jegliche Gnade, liefert sie an seine Bekannten, ordnet an, wie sie sich in ihrer Freizeit verhalten und sich kleiden soll, peitscht sie unmenschlich aus, kommt zu jedem Zeitpunkt, wann es ihm passt, ohne sie danach zu fragen. Anfänglich gehorcht sie aus ihrer Liebe zu René, dann verliebt sie sich immer mehr in ihren Herrn, ihre Gefühle zu ihm sowohl ihr Bedürfnis, ihm eine Freude zu machen und ihn zu befriedigen, werden immer tiefer.
Und dieser scheinbar unnahbare Mann, der seine Gefühlslosigkeit und seine Härte nach außen präsentiert, fühlt sich mit ihr auch zunehmend verbunden und sucht Nähe zu ihr. „… er war genauso bleich, wie sie. Wie ein Blitz durchzuckte sie die Gewißheit, daß er sie liebte. Wie ein Blitz erlosch sie wieder. Doch obwohl sie nicht daran glaubte, sich selbst verlachte, war ihr dieser Gedanke ein Trost und sie entkleidete sich gehorsam auf seinen Wink.“
Trotz oder vielleicht doch wegen seiner Gefühle, liefert er O an einen weiteren Ort, an dem er sie weiterhin zu einer gehorsamen Sklavin ausbilden lässt. Im Haus von Anne-Marie wird sie gleich am ersten Tag in einem Musikpavillon, dessen Wände mit Kork belegt und Fenster dreimal verglast sind, durch heftige Peitschenhiebe bestraft und soll dort stundenlang an der Bühne angekettet bleiben. Samt anderer Mädchen, die sich im Haus befinden, folgt O buchstäblich den strikten Hausregeln und kommt immer wieder zu Anne-Marie nachts, um sie zu befriedigen, wenn sie infolge von einem willkürlichen Werfen einer Münze dran ist. Am Ende ihres Aufenthalts werden, auf Anweisung von Herrn Stephen hin und in seiner Anwesenheit, an ihrem Schoss Ringe angebracht, mit einer Inschrift, die sowohl ihren als auch seinen Namen trägt. Diese Ringe sind fest montiert und könnten eventuell nur durch das Pfeilen entfernt werden. Auf ihren Lenden werden zur gleichen Zeit mit glühendem Eisen seine Initialen gebrandmarkt, und dieses Zeichen bleibt von nun an für immer da. Somit bleibt sie bis Ende ihres Lebens seine Sklavin, ganz unabhängig davon, ob er sie weiterhin liebt und bei sich behalten will.
Bekannterweise ist die Liebe aber meist trügerisch und vorübergehend. Der älteste, und auch der beste Film, der in den 1970er Jahren auf Basis dieses Buches gedreht wurde, wirkt deutlich romantischer und gefühlvoller als die Originalerzählung. Das Verhältnis zwischen O und Sir Stephen entwickelt sich dort zu einer mehr oder weniger klassischen Beziehung, und er gesteht ihr seine Gefühle und bleibt mit ihr verbunden. Am Ende des Films willigt er sogar zu, sich aus Liebe zu ihr einer peinlichen Prüfung zu unterziehen und lässt sie auf seinem Handrücken eine Zigarette ausdrücken. Dies hinterlässt eine Brandmarkung auf seiner Haut: „O“ und bestätigt somit, dass das Abhängigkeits- und Liebesverhältnis auf Gegenseitigkeit beruht.
Ganz anders sieht die Realität im Buch aus. Der Handlung wird abrupt ein Ende gesetzt. O tritt auf einer Party in Cannes auf, mit einer Maske aus Federn verhüllt, und kann von allen Anwesenden beobachtet und angefasst werden. Schlussendlich wird sie von Sir Stephen und einem anderen Mann, der sich als Commander nennt, auf einem Tisch genommen. Kein romantisches Happyend. Das letzte Kapitel wurde von der Autorin gestrichen, vielleicht mangels Zeit und Inspiration oder vielleicht doch deswegen, weil es ihr schwer fiel zu schildern, wie die Illusionen von O in die Brüche gehen. Laut einer kurzen Zusammenfassung, die man anstelle dieses Kapitels zu lesen bekommt, bestehen zwei alternative Wege: O wird von Sir Stephen verlassen und kehrt nach Roissy zurück oder O wird von Sir Stephen verlassen und nimmt sich mit seinem Einverständnis das Leben. Erst aus der zwanzig Jahre später verfassten Fortsetzung erfahren wir, dass O tatsächlich nach Roissy zurückkehrt.
„Als O auf dem Rücksitz Platz genommen hatte und ihr Gepäck vorn verstaut war, beugte sich Sir Stephen gerade lange genug herab, um ihr die Hand zu küssen und sie kurz anzulächeln, dann schloß er die Tür. Er hatte nichts zu ihr gesagt, weder „Auf Wiedersehen“ noch „Bis bald“ oder „Adieu“. O hatte geglaubt, er würde auch einsteigen. Der Wagen fuhr so schnell ab, daß sie nicht die Geistesgegenwart hatte, ihn zu rufen…“ Und O kommt wieder nach Roissy, im hiesigen Schloss wird sie weiterhin als Sklavin benutzt, missbraucht, vergewaltigt und gezüchtigt. Das Ende von dieser geheimnisvollen und gleichzeitig traurigen Geschichte bleibt offen.
„Wenn du mich nicht küssen willst, sondern mich lieber schlagen möchtest dann kannst du mich schlagen, aber schick mich bitte nicht weg,“ sagt Natalie, ein 15jähriges Mädchen, das hoffnungslos in O verliebt ist und in dieser Geschichte eine hintergründige Rolle spielt. Dennoch wird O trotz ihrer absoluten Hingabe weggeschickt, zweifach sogar, zuerst von René und dann von Sir Stephen. Was wollte uns die intelligente, anständige und dennoch in ihrer Fantasie dermaßen versaute Autorin damit sagen? Ist es wirklich so, dass die richtige Hingabe wenig mit der Belohnung rechnen darf? Unterwirft man sich, um die Liebe von jemandem zu verdienen, den man begehrt, oder doch aus eigenem Verlangen und eigener Lust? Wo verläuft die Grenze zwischen der Liebe, der Aufopferungsbereitschaft, die in jedem sadomasochistischen Verhältnis vorhanden ist, der Vernunft, der Fantasie und der Realität? Was kann eine moderne, selbstsichere und attraktive Frau dazu bewegen, ihr ganzes Leben übers Bord zu werfen, sich einem Mann zu unterwerfen und einer Illusion hinterher zu rennen, die alternativlos endlich ist? Oder ist dieses Hinterherrennen doch keine Illusion und das einzig reale und echte Erlebnis, das wir in diesem oft fadenscheinigen Leben mindestens einmal brauchen und das uns nachhaltig prägt?
In „Der Geschichte der O“ werden viele Fragen gestellt, und kaum eine davon wird beantwortet. Vielleicht ist es auch ein Grund dafür, warum dieses Buch erotische Vorstellungen von so vielen Menschen weiterhin prägt und fast schon zur Bibel von der mittlerweile umfangreichen und vielschichtigen SM-Szene avanciert ist. Die meisten devot veranlagten Personen, zu denen auch ich gehöre, suchen einen Mittelweg zwischen der Unterwerfung und der Realität, opfern sich nur in gewissen Momenten, unter Einhaltung von vielen Tabus und Einschränkungen, auf und führen dann ein ganz normales bürgerliches Leben. Für die meisten von uns ist die Welt der Unterwerfung eine Schattenwelt, eine mögliche Alternative, die unser sonst oft so eintöniges Dasein etwas aufwirbelt und bunter macht. Und dabei gibt man die eigene Identität nicht auf und behält eigene Freiheiten. Und es ist auch gut so.
O lässt sich vollständig versklaven und löst sich in dieser Aufgabe auf, am Ende verschwindet sie fast komplett aus der Gesellschaft und reduziert sich nur noch auf eine Funktion. Sich unterwerfen, sich benutzen lassen, körperlich und geistig leiden, in Geduld üben und auf die eigene Identität verzichten. Das kann man nicht gut heißen und nicht befürworten, ganz im Gegenteil. Jedoch gehört „Die Geschichte der O“ zu den Kunstwerken, die dramatische Situationen zugespitzt und bis in die absurde Konsequenz fortgetrieben darstellen. Es gibt dort keine Grautöne, alles ist entweder schwarz oder weiß. Und gerade dieses Kontrastreiche sticht ins Auge und lässt uns sowohl über unsere eigenen sexuellen Neigungen als auch über die Liebe nachdenken.
„Wie weit kann man für die Liebe gehen und darf man von dem Objekt eigener Liebe Gegenseitigkeit und Gegenleistungen erwarten?“ Diese Frage muss jeder für sich selbst beantworten. Und es ist wohl eine der existentiellen Fragestellungen, die uns lebenslang begleiten und für die wir so oft keine eindeutigen Antworten finden können.