GZ-Interview mit den Ärzten der Welt:
„Eine gesundheitspolitische Zeitbombe“
Eine Oase der Hilfe für die Ärmsten mitten in Athen. So könnte man die Athener Klinik der „Ärzte der Welt" in der Sapfous-Straße 12, wenige Minuten vom Omonia-Platz entfernt, bezeichnen. Zum Großteil freiwillig bieten dort Ärzte kostenlos gesundheitliche Versorgung an, Medikamente, Beratung und in Ausnahmefällen ein Dach über dem Kopf. Dort sprach die Griechenland Zeitung mit der Kinderärztin Anna Mailli, Vorstandsvorsitzende der „Ärzte der Welt".
GZ: Seit wann besteht Ihre Organisation und welche Ziele verfolgt sie?
MAILLI: Es gibt sie hier in Griechenland seit 1990. Es handelt sich um eine international tätige Organisation mit Sitz in Paris, die sich auf Ärzte stützt, die ehrenamtlich arbeiten. Hier in Griechenland hat man gewissermaßen heroisch angefangen, da haben sich fünf Leute zusammengesetzt und gesagt, wir werden eine Mission starten, wir beladen zwei Lastwagen mit Medikamenten und fahren damit nach Palästina, wo wir als Ärzte arbeiten werden, bis uns das Geld ausgeht. Die Organisation ist gewachsen, und im Moment haben wir sehr viele Mitglieder, wir haben 5.000 Freiwillige.
GZ: Welche Ziele verfolgen Sie heute?
MAILLI: „Ärzte der Welt" war eine Organisation, die überwiegend im Ausland aktiv war, wo immer es Hunger, Naturkatastrophen, Kriege gab. In den letzten Jahren seit Ausbruch der Krise haben wir aber beschlossen, uns auf Griechenland zu konzentrieren, wo das Problem der Gesundheitsversorgung durch die Einschnitte im Gesundheitswesen sehr wichtig geworden ist und die Menschen sehr schlecht damit klarkommen. Sehr beschränkt haben wir auch noch internationale Missionen, aber vorwiegend sind wir in Griechenland aktiv.
„Bedauern, Trauer und Wut. Viel Wut"
GZ: Wie fühlen Sie sich, wo im Zuge der Krise auf einmal das eigene Land „Einsatzgebiet" geworden ist?
MAILLI: Ich habe das alles von Anfang an miterlebt, weil ich zu denen gehöre, die die Praxis in Perama, einem Stadtteil von Piräus, eingerichtet haben, wo im Grunde nur Griechen hingehen. In der Athener Klinik ist die Relation etwa 60 Prozent Nichtgriechen zu 40 Prozent Griechen, in Perama sind es zu 90 Prozent Griechen. Ich war erschüttert, als die Krise losging und die ersten Griechen kamen. Die Griechen haben auch ihre Besonderheiten, das heißt, sie schämten sich am Anfang sehr, um Hilfe zu bitten. Sie kamen voller Scham, dass sie zugeben müssen, dass sie krank sind und kein Geld haben und arbeitslos sind. Und vor allem die griechischen arbeitslosen Männer fühlen sich ziemlich unwohl dabei. Wir waren sehr traurig, wenn wir mit ansehen mussten, wie Eltern mit ihren Kindern kamen, weil sie seit zwei Jahren kein Geld für die Impfungen hatten, weil sie keine Milch für sie kaufen konnten oder keine Kleider oder Schuhe oder Bücher oder einen Schulranzen. Wir gerieten also in diesen Prozess hinein und mussten immer mehr Psychologen zur Unterstützung dieser Menschen heranziehen. Und meine Gefühle waren Bedauern, Trauer und Wut. Viel Wut.
GZ: Was hat Sie besonders erschüttert?
MAILLI: Eine griechische Familie kam zum Beispiel mit zwei kleinen Kindern zu uns, von denen das eine dreieinhalbjährige Kind an einer Krankheit namens Galaktosämie leidet. Das ist eine Stoffwechselstörung, und dieses Kind braucht, abgesehen von allem anderen wie Medikamenten und ständigen Untersuchungen, eine besondere Diät. Der Stoffwechsel funktioniert bei dieser Krankheit nicht richtig und das Kind erblindet nach und nach, es bekommt Herzprobleme, die Leber, die Nieren gehen kaputt. Und wenn man nicht aufpasst, dann ist die Lebenserwartung sehr gering, bei ungefähr 20 Jahren. Ich fühlte, dass ich diesem Kind nicht insgesamt helfen und sein Leben nicht so unterstützen kann, wie es sein müsste. Es wäre eine komplexe Behandlung nötig, mit allem, was dazu gehört. Ein anderer Fall war der einer schwangeren Frau, die an einer Psychose litt. Sie war im siebten Monat schwanger, eine Griechin, und sie wurde von einem Bulgaren zu uns gebracht. Wir haben nicht gefragt, aber es hätte auch ihr Zuhälter sein können. Aber er konnte uns einige Informationen geben, dass die Frau auf den Strich geht, dass sie Prostituierte sei, dass bei ihr Hopfen und Malz verloren seien. Wir haben die beiden großen staatlichen Psychiatrien in Athen angerufen, und die haben sich geweigert, sie aufzunehmen – weil sie unversichert und weil sie schwanger war. Schließlich mussten die „Ärzte der Welt" beim Staatsanwalt intervenieren, damit die Frau eingewiesen werden konnte.
Es ist erschütternd, wenn man jeden Tag solche Sachen erlebt und man macht sich auch Gedanken über die eigene Stellung in dieser ganzen Situation. Vielleicht ist das auch eine Gelegenheit, damit wir, alle Griechen, unser Leben und unsere Einstellung zum Leben noch einmal neu, also ganz von vorn betrachten.
Drei Millionen Menschen ohne Sozialversicherung
GZ: Was hat sich in den letzten drei Jahren im staatlichen Gesundheitswesen besonders verschlimmert und mit welchem Rhythmus? Wo ist der Unterschied zu anderen Ländern, wo es natürlich auch Arme gibt?
MAILLI: Zunächst liegt der Unterschied im Tempo der Ereignisse. Hier in Griechenland ist das, was geschehen ist, auf besonders dramatische Weise und sehr schnell erfolgt. Und die Gesellschaft, die Menschen, waren nicht darauf vorbereitet, damit umzugehen. Jeder war „auf seinem Privattrip", und plötzlich stehen sie nicht nur ohne Job, sondern auch ohne Gesundheitsversorgung da. Ich will Ihnen ein Beispiel nennen: Momentan sind drei Millionen Menschen ohne Sozialversicherung. Von zehn Millionen in Griechenland. Das sind offizielle Daten. Damit diese Menschen ihr Kind impfen lassen können – als Kinderärztin werde ich Ihnen solche Beispiele nennen –, müssen sie zum Privatkinderarzt gehen, den sie bezahlen müssen, und darüber hinaus noch den Impfstoff kaufen. Dieser Mensch muss also den Besuch beim Kinderarzt plus 30 bis 35 Euro für Impfstoffe zahlen. Wir haben berechnet, dass es 1.600 bis 1.800 Euro sind, damit ein Kind die Grundimpfungen bis zum Alter von sechs Jahren bekommt. Wenn also jemand kaum über die Runden kommt, wenn er seine Steuern nicht mehr bezahlen kann, keinen Strom und kein Wasser mehr hat – und in Perama sind viele Haushalte ohne Wasser und Strom –, dann wird er seine Kinder nicht impfen lassen. Er wird zum Arzt gehen, wenn es wirklich nötig ist, wenn das Kind krank ist. Das ist eine „gesundheitspolitische Zeitbombe". In Kürze wird Griechenland ein Drittweltland sein, wo es Tetanus, Diphtherie, Kinderlähmung und Masern gibt. Und dann wird es sehr viel schwieriger sein, damit umzugehen, ich meine ökonomisch mit dem so entstandenen Problem umzugehen, als wenn man gratis Impfstoffe für die Kinder zur Verfügung stellen würde.
GZ: Wie war das denn in früheren Jahren?
MAILLI: Früher konnten alle mittellosen oder unversicherten Kinder zu den staatlichen Kinderheimen (PIKPA) gebracht werden, wo sie gratis geimpft wurden. Jetzt gibt es sie nicht mehr, man hat sie geschlossen. Also muss man zahlen. In einer Studie der Nationalen Schule für Volksgesundheit, steht, dass 65 bis 70 Prozent der Impfungen bei Kindern von Privatärzten vorgenommen werden. Das heißt, der Staat ist hier unbeteiligt. Die medizinische Versorgung hat sich drastisch verändert. Für einen Menschen, der Krebs hat, bedeutet das eine richtiggehende Prüfung, an seine Medikamente zu kommen. Nehmen wir die einfache Gesundheitsversorgung. Früher gab es das Krankenscheinheft für Mittellose, mit dem kam man umsonst ins Krankenhaus kam. Jetzt darf man, um dieses Heft zu bekommen, dem griechischen Staat nicht einen Euro schulden.
GZ: Wo ist der Bedarf Ihrer Meinung nach größer? In den großen Städten oder in der Provinz?
MAILLI: Wenn Sie mich vor einigen Monaten gefragt hätten, hätte ich geantwortet, in den großen Städten, wo die Arbeitslosigkeit größer ist usw. Jetzt sehe ich aber, dass sich auch in der Provinz die Dinge sehr verändert haben. Wir haben mobile Teams, die in abgelegene Dörfer und auf entfernte Inseln fahren, und die Gesundheitszentren dort haben keine Ärzte mehr. Sie stehen leer, es sind gute Gebäude, aber ohne einen einzigen Arzt. Neulich war ich in Arkadien, was soll ich Ihnen sagen? Die Leute kamen anderthalb Stunden mit dem Auto zu uns gefahren, aus weit entfernten Dörfern. Die Frauen kamen, um einen Pap-Test zu machen, damit wir ihre Kinder untersuchen, andere für ein Kardiogramm, ganz grundlegende Dinge also.
Neues Nachtquartier für Obdachlose
GZ: Die „Ärzte der Welt" arbeiten auch auf der Straße …
MAILLI: In Athen hat man Bevölkerungsgruppen, die völlig abgeschnitten sind. Weil kein Geld da ist, werden die Zentren, wo die Abhängigen zur Unterstützung und zum Entzug hingegangen sind, geschlossen, und die landen jetzt alle auf der Straße. Wir haben ein mobiles Team, das zu den Obdachlosen geht – wir wissen, wo die sich aufhalten, in Athen, in Piräus –, und ein mobiles Team, das sich in den Straßen von Athen um die Drogensüchtigen kümmert und um die Prostituierten.
Die Stadt Athen hat uns vor kurzem ein Gebäude zur Verfügung gestellt, in der Odos Alikarnassou nahe dem Larissa-Bahnhof, wo wir zusammen mit den humanitären Organisationen „Praxis" und „Klimaka" ein Nachtquartier für Obdachlose eingerichtet haben. Die Betten haben wir vom Hotel Asteras Vouliagmenis geschenkt bekommen, als dort einige Flügel geschlossen wurden, Bettzeug von dort und anderswo, und so ist eine sehr gute Herberge entstanden. Dort können die Obdachlosen zwischen 19 und 23 Uhr hinkommen, baden, in einem sauberen Bett schlafen, sie bekommen ein leichtes Essen und ein Frühstück, können ihre Kleider waschen, und am Morgen müssen sie wieder raus. Das ist die erste derartige Unterkunft in Griechenland.
GZ: Welche Menschen kommen dorthin?
MAILLI: Konkret erzählte mir eine Dame, dass sie eine Zeitlang bei einem Kioskbesitzer zu Gast war und abends in seinem Kiosk wohnte, als er geschlossen hatte. Das sind nicht Obdachlose, wie man sie sich normalerweise vorstellt. Vielen sieht man es nicht an, das meine ich. Die wohnen in Häusern ohne Strom, die sie leerstehend gefunden haben. Das sind nicht nur die, die auf der Straße leben, das sind auch andere, die man nicht sieht.
Gratisversorgung für alle Kinder und Schwangere
GZ: Was müsste sich Ihrer Meinung nach in der Gesundheitspolitik ändern, damit sich die Dinge rasch bessern?
MAILLI: Unser Ziel als Organisation ist die Gratisversorgung und Gratisimpfungen für alle Kinder und Schwangeren. Das ist sozusagen die Speerspitze unserer Politik im Moment. Dass diese Menschen – Kinder und Schwangere – ein Recht auf eine kostenlose medizinische Versorgung haben. Darüber hinaus fordern wir, dass die Kürzungen aufhören, und dass Maßnahmen ergriffen werden, damit die Gesundheitsversorgung für alle gleich und gerecht ist.
GZ: Wie bringen Sie die Mittel für ihre Aktivitäten auf?
MAILLI: Ein sehr großer Teil kommt von Menschen, die die Organisation stützen wollen. Es handelt sich um einfache Menschen, die Initiative ergreifen und uns vor allem Medikamente, Milch, Nahrungsmittel und dergleichen spenden. Dann gibt es EU-Programme, um die wir uns bewerben und die wir bekommen. In letzter Zeit kommen Zuwendungen von Auslandsgriechen. Griechen in Deutschland zum Beispiel haben eine Veranstaltung gemacht und schickten uns Geld für Impfstoffe.
GZ: Wenn jemand aus dem Ausland, aus Deutschland, Österreich oder der Schweiz etwa helfen wollte, an wen könnte er sich wenden? Was könnte er tun?
MAILLI: Normalerweise bitten wir nicht um Geldspenden, wir machen Kampagnen für Sachspenden, wie Milch für Kinder oder Medikamente. Das, was inzwischen fehlt, sind aber die Impfstoffe. Und die kann man nicht einfach hierher schicken, weil sie kühl gelagert und zum Teil aufwändig transportiert werden müssen, die Regeln sind hier strenger als bei anderen Medikamenten. Dafür brauchen wir Geld. Jemand kann also gezielt einen Betrag auf unser Konto einzahlen und Impfstoffe als Verwendungszweck angeben.
Das Interview führten Jan Hübel und Robert Stadler. Veröffentlicht wurde es in der Griechenland Zeitung 413