Hallo ihr Lieben, die ihr mit etwas mehr gesegnet seid.
Hab da mal nen Bericht gelesen:
Die Korsett-Königin
Bei
Korsett-Engelke, Kantstr. 109, 10627 Berlin, wird in dritter Generation elegante Damenwäsche verkauft. Die Inhaberin Ursel Rieck weiß alles über Frauenkörper jenseits der Standardgrößen.
So ist es schon vielen Frauen ergangen: Sie durchsuchten die Stadt vergeblich nach einem Stringbody in – sagen wir - 70 F oder 90 Doppel-D. Bevor man das wirklich letzte Geschäft betritt, ahnt man bereits, dass man gleich nach Hause schleichen wird, keineswegs mit neuer, gut sitzender, aufregender Unterwäsche, sondern mit dem bohrenden Gefühl, eine Missgeburt zu sein. Die Dessous-Verkäuferinnen, standardschlanke Gestalten, lächeln bedauernd mit rotem Mund. Ihre Auswahl umfasst nur die allerneueste Kollektion und wer nicht in die gängigsten 3 Größen passt, existiert für sie nicht.
In allerhöchster Not betritt die Frau, die sich nun endgültig für unglücklich gebaut hält, Korsett-Engelke. Das mit Miederwaren und Glitzerfolie voll gestopfte Schaufenster hat mit minimalistischen Dessous-Auslagen, in denen ein einziges, teures Höschen aufgebahrt wird, nichts gemein. Die Frau betritt einen kleinen Laden, der so ziemlich das unmodischste ist, was man sich vorstellen kann: Gnadenloses Neonlicht, geblümter Teppichboden aus den 50er Jahren, über und über einander gestapelte Pappkartons, gefüllt mit knisternden Plastiktütchen, aus denen Träger, Schleifchen, Satinbänder, Polster quellen. Am Regal hängt ein ungeheuer altmodisches Flanellnachthemd. Es wirkt menschlich hier, angestaubt, chaotisch gewachsen, geschmacklos, gemütlich.
Und der Kundin tritt eine stattliche Königin entgegen, sie trägt eine hoch aufgetürmte, glänzendblonde Lockenkrone und hält sich auffallend gerade. Sie umfasst die betrübte Frau mit einem wachen, scharfen, erfahrenen Blick und sagt ihr auf den Kopf zu, welche Körbchengröße sie hat. „Ick hab´n Maßband im Auge.“ Das ist Ursel Rieck, geborene Engelke, die Inhaberin.
Dieser Frau und ihren wendigen Händen kann und muss eine Kundin nichts vormachen. Nichts Weibliches ist ihr fremd: Sie ist 1938 in der Miederwaren-Werkstatt ihrer Eltern geboren, „mitten in den Strapsen“, hat jeden erdenklichen Frauenkörper schon mal gesehen, sei er göttlich geformt oder „total vermantscht“. Und auch, wenn die unglückliche Neu-Kundin davon nichts weiß, spürt sie sofort, dass ihre Brüste, ihre Taille, ihr Po hier in den kundigsten Händen liegen.
Es geht los wie immer: Sie trägt ihren Wunsch vor, vielleicht ihr Problem, Frau Rieck bückt oder streckt sich, um aus einem Karton eine durchsichtige Tüte herauszuziehen, in der sich Spitzen schlängeln. Ihre Hände breiten aufwändig bestickte Hügelchen aus. „Ziehen Sie doch einfach mal …“ Kurzes Zögern, und wieder verschwindet eine in der vergilbten, wackeligen Umkleidekabine. Welche Schätze dieser verwühlte, 50 Jahre alte Laden birgt, den man sofort unter Denkmalschutz stellen müsste, inklusive der hier versammelten praktischen Erfahrung um die Kurven der Frau jeden Alters, wird die Kundin in der nächsten Stunde ansatzweise entdecken.
Bis dahin ein wenig Geschichte:
Karl Engelke, Frau Riecks Vater, war gelernter Kaufmann, seine Frau Weißnäherin. Vor dem Krieg stellten sie Büstenhalter und Korsetts her und zogen damit über Märkte im Berliner Umkreis. Im Winter trugen sie Schuhe mit dicken Sohlen, in denen glühende Kohlen lagen. Und in der Näh-Werkstatt ist Tochter Ursel zur Welt gekommen.
1947 eröffneten die Eltern ihr erstes Geschäft in Berlin-Neukölln. „Der Vater interessierte sich sehr für Rüschchen und Spitzchen und wollte auch immer das Neueste.“ Nach dem Krieg Nylons natürlich, aber auch solche Sachen: Sechzehn war Ursel, wie sie sich erinnert, als eine Dame das Geschäft betrat – schätzungsweise Kleidergröße 52. Ihr Mann war als Soldat in Paris gewesen, flüsterte sie, und er wünsche sich an seiner Frau ein französisches Höschen. Was das war, wusste Karl Engelke nicht. Die dicke Dame wisperte: „Das steht im Schritt offen.“
„Und so stand ich mit Vater am Zuschneidetisch und wir überlegten: Soll der Schlitz nun längs oder quer? Wir beschlossen, uns nach der Natur zu richten, also längs.“ Die französischen Höschen entwickelten sich im Nachkriegs-Westberlin zum Verkaufsschlager.
Und dann gab es da noch die „Möchtegerndamen“, also eigentlich Herren, die im Hinterzimmer ihre Köfferchen aufbewahren durften, von denen die Gattinnen nichts ahnen durften. Die holten sie dann abends ab, um sich in irgendeinem Keller vor einem Spiegel heimlich in Damenunterwäsche zu bewundern.
Karl Engelke war charmant und gutaussehend. „Die Kundinnen sind auf ihn geflogen“, und ließen sich nur zu gern bei ihm Maß nehmen. Ganz im Gegensatz zu heute: „Die Frauen sind viel prüder. Wenn man sie anfassen will, zieren sie sich wie Zicken am Strick.“ Dass Frau Rieck zu klaren Worten fähig ist, werden wir noch an anderer Stelle erfahren.
Sie wuchs also umgeben von Unterwäsche, Korsettstangen, baumelnden Busen und Schwimmring-Taillen auf, ging zwischendurch ein paar Jahre „in die Fremde“, machte ihren Schneidermeister in einer Miederfabrik, und guckte sich in England als Volontärin zwei Jahre lang britisches Korsagen-Knowhow ab. Sie kam zurück, heiratete einen Polizisten (der sie zeitlebens nur in weißer Wäsche sehen wollte), arbeitete wieder im Laden, übernahm das Geschäft 1974.
Hat sich in dem mehr als halben Jahrhundert, das Sie nun schon mit Frauenkörpern und Wäsche umgehen, etwas verändert, Frau Rieck? „Grundsätzliches nicht. Nach oben, der Schwerkraft entgegen wirken, dieser Wunsch bleibt ewig gleich. Der Unterschied ist vielleicht, dass die Frauen nun in dritter, vierter Generation die Pille nehmen, und das Essen fetter ist. Die Brüste sind deutlich größer.“
„Ja“, bestätigt Tochter Antje Fröhlich. Sie ist die dritte Generation Korsett-Engelke und steht nun auch schon siebzehn Jahre hinter dem Glastresen. „Es kommen Zwölfjährige mit E-Cup, das ist denen so peinlich, dass sie schon gebückt gehen. Wir sagen ihnen dann, dass sie sich aufrichten müssen.“
Jede Menge Geschichten haben die beiden zu erzählen. Über Frauen in Begleitung zum Beispiel. Da gibt es die eine Sorte Männer, die sich liebend gern zwei gemütliche Stunden auf einem Stuhl niederlässt und mit ihrer Liebsten etwas richtig Schönes aussucht. Und dann sind da welche, „so was von altmodisch, die wollen ihrer Frau was richtig Oma-mäßiges verpassen, am besten eine fleischfarbene Langbeinhose, und die Frauen wehren sich nicht. Sie haben keine Ausstrahlung mehr, wenn sie so erdrückt werden.“
Da war eine, um die Hüften recht füllig, die probierte Wäsche an, während der Mann breitbeinig vor der Kabine stand. „Du bist so fett geworden“, warf er ihr vor, während er selbst seine Wampe zur Schau trug.
„Frauen, die unten auslegen, sind mit ihrem Sexleben unzufrieden“, sagt Frau Rieck mit aller Bestimmtheit, und das hat sie dann der Frau auch geflüstert, als deren Gatte für ein paar Minuten das Geschäft verließ. „Entweder Sie wehren sich, oder Sie wechseln den Mann.“ Ein Jahr später betrat eine Dame den Laden und sagte: „Kennen Sie mich nicht mehr?“ Sie hatte sich scheiden lassen, und um die Hüften war alles in Ordnung.
Frauenunterwäsche kann eben nicht nur praktisch oder reizvoll sein, sondern auch demütigend. Frau Fröhlich erinnert sich an ein schüchternes Mädchen, das mit den Eltern einen BH kaufen kam. Diese behaupteten, die Tochter trüge 85 B, und wollten partout nicht hören, dass sie in Wahrheit „D“ brauchte. Da ist sogar die sanfte Antje Fröhlich laut geworden: „Sie sind hier leider falsch!“ Und fügt hinzu: „Das arme Mädchen war schon ganz verklemmt.“
Aus Australien, Moskau, Stockholm kommen die Stammkunden, viele haben ihren ersten BH hier gekauft. Andere Berliner Dessous-Geschäfte, selbst das KADEWE schicken seit Jahrzehnten „Fälle“, denen sie nicht weiterhelfen können. „Als deren Kunden sind die in dem Moment verloren, in dem sie meinen Laden betreten“, sagt Frau Rieck.
Kleine Änderungen macht sie aus Kulanz, und sie schafft es auch, einer Frau mit 198 cm Hüftumfang und 137 cm Unterbrustumfang, ein Korsett zu fertigen, „in dem sie leben kann“. In diesem Fall haben sie eines der Größe 120 G auseinander genommen und es an den Seiten um je zehn Zentimeter erweitert, mit Stangen verstärkt und verlängert. Wie kommt frau in so ein Ungetüm überhaupt hinein? „Vorne zumachen“, sagt Frau Rieck, „das Ganze um die Taille nach hinten drehen, dann vorbeugen und die Brüste in die Körbchen schütteln.“ (Körbchen ist gut.)
In den Achtzigern erweiterte Ursel Rieck auf vier Geschäfte, stand im Who is Who als Berliner Geschäftsfrau verzeichnet. Doch das Persönliche im Verkauf ging ihr in den Filialen verloren, die Angestellten waren nicht unter Aufsicht, und so schrumpfte sie wieder zurück auf diesen Laden in Berlin-Charlottenburg, der den Namen und den Schriftzug Korsett-Engelke selbst dann nicht wechseln wird, wenn das noch entschiedener jedem Trend zuwiderläuft als jetzt schon.
Fernsehbekannte, gewaltig ausufernde Transvestiten standen hier bereits mit pinkfarbener Perücke und ansonsten schamlos unbekleidet unter dem Neonlicht, und ein Nacktbusenmodell, das sich den Busen aufbauen ließ, seit es 16 ist, kommt regelmäßig, denn kein Luxus-Lingerie-Geschäft führt Mieder in Körbchengröße 75 H. Das sind pro Brust etwa 5 bis 6 Kilo, „so schwer wie unser Kater“, lacht Antje Fröhlich.
Und dann gibt es da noch die Brustkrebs-Operierten, die zum Teil schlimm zugerichtet sind, wie Ursel Rieck erschüttert berichtet. Und die Rückenpatientinnen, die ein Korsett aus dem Bandagengeschäft tragen, in dem sie nicht leben und nicht sterben können. (Frau Rieck musste selbst achtzehn Jahre eines tragen, sie kennt jede mögliche Scheuerstelle.) Und die Schwangeren. Und jene, bei denen sich nichts, aber auch gar nichts abzeichnen soll. Und die, die einen BH zum Aufkleben suchen oder einen, in dem die Nippel frei liegen. Oder einen Zauber-Büstenhalter, der die Brust dauerhaft verformt. Oder gar zwei original aus den 50ern stammende Badeanzüge, hervorragend gearbeitet, statt mit Elastan-Beimischung an den Seiten und im Schritt gesmokt. Und Schnürkorsagen für atemraubende Wespentaillen.
Die Kundin, die anfangs noch daran dachte, sich vom nächsten Turm zu stürzen, zieht glücklich davon. Und Ursel Rieck lässt den Cockerspaniel der Näherin hinaus. Und die Ladentür klingelt. So geht es hier Tag für Tag, Jahrzehnt für Jahrzehnt. Ohne Computer. Ohne Arroganz. Mit französischen Höschen in wirklich allen Größen.
Bericht von Gabriele Bärtels