Das Thema polarisiert ja ziemlich, wohl weil es so unterschiedlich definiert wird, bzw die Grenze zum Unnatürlichen oder nicht wünschenswertem jeder anders zieht.
Meine eigene Grenze hat sich über die Zeit auch schon verschoben. Habe ich im Teenageralter Anfang der 2000er gerne die Haare gefärbt, angefangen mir alles mögliche akribisch wegzurasieren und Kosmetik-, Duft- und Hygieneprodukte im Übermaß zu verwenden, aber dennoch die Mädels als "Tussis" empfunden die 3cm Gelnägel und künstliche Haare hatten, so sieht das heute zum Glück ganz anders aus! Aber der Reihe nach.
Sehen wir uns erstmal meine 20er an. Da verlor die viel hilft viel Devise zum Glück ihre Gültigkeit und ich begriff, dass auch ich früher unter meine eigene Definition von "etwas tussig" gefallen war.
Ich hatte mittlerweile ein Waxing Studio für die lästige Arbeit mit den eh kaum sichtbaren Härchen entdeckt (bin blond), hatte zum Glück auch begriffen, dass ich wie beinahe jede Mittzwanzigerin eine junge schöne Haut habe die keine Spachtelmasse nötig hat. Ich stieg um auf dezente Betonung an den richtigen Stellen mit viel unbemalter Fläche, was wesentlich schöner aussah als jedes Gesicht was ich mir früher mit vielen Schichten aufgetragen hatte. Die blonden Haare durften aber auch da doch noch etwas heller sein und bekamen Strähnen verpasst, mussten aber keine krassen Farbwechsel mehr erdulden. Auch erkannte ich, dass ein dezenter Duft oder einfach sauber zu sein verlockender war als jeder noch so gut gemeinte Angriff auf jedermanns Nase und empfand das alles als viiiel natürlicher als mein früheres Ich gewesen war.
Ich steuerte nun stramm auf die 30 zu, was änderte sich hier im Punkt Natürlichkeit?
Etwas, was einem zeigt wie nebensächlich doch vieles ist. Ich bekam Chemopräparate. Und ziemlich viele andere Chemiebomben über die sich der Körper nicht freut, die aber das kleinere Übel waren. Meine Haare gingen größtenteils aus, genug für kahle Stellen und mitfühlende Fragen von Fremden, aber zu wenig für eine Perücke über die Krankenkasse. So bekam ich über einen befreundeten Friseur zum Einkaufspreis spezielle Extensions die trotz Ausfall halten konnten. Nicht natürlich, aber seelisch wichtig und für mich doch tausendmal natürlicher mein gewohntes Ich im Spiegel zu sehen statt den gerupften Vogel der ich war. Meine Haut wurde wählerisch und unfassbar trocken, ich verzichtete komplett auf Kosmetik. Ich ertrug keine Gerüche mehr, ob Parfümstoffe, zu viel Waschpulver, oder starker Essensgeruch. Ich stellte im Bereich Hygieneprodukte alles auf supersensitive um. Und ich hatte auch wichtigere Probleme als mich um irgendwelche Beinhaare zu sorgen, also wuchsen sie eben.
Wie sehe ich meine Natürlichkeit heute mit all diesen Erfahrungen?
Ich habe meine schöne Haut zurück und bin noch immer ungeschminkt. Nur ab und an mal etwas braune Wimperntusche auf die blonden Wimpern, wenn mir der Sinn danach steht. Das ist für mich noch immer sehr natürlich, weil es mich kaum von meinem echten Aussehen wegführt. Ich färbe mir die Haare in meiner natürlichen Haarfarbe, denn was an Haaren nachwuchs ist und bleibt farblos. Meine Beine rasiere ich bis oberhalb der Knie und ebenso die Achseln, das wars. Ich habe einige Narben von vielen Operationen die ich eincreme und pflege wie den Rest meiner Haut, mich ihrer aber nicht schäme. Sie erzählen das Leben, wie mein ganzer Körper.
Das ist für mich persönlich auch Natürlichkeit. Wenn jemand sein kann wie er ist, sich zeigen kann wie er ist und nicht versteckt was ihm im Leben alles widerfahren ist, gut wie schlecht.
Da ist es in meinen Augen auch egal ob jemand die Haare färbt, Kosmetik benutzt oder duftet, sich rasiert, die Nägel lackiert, solange es noch möglich ist den Menschen zu sehen wie er ist und nicht eine verfremdete Fassade die er aus gesellschaftlichem Zwang oder anderen Gründen errichtet hat.