Die versprochene Geschichte zum Thema
Ein Mann beobachtete einmal lange Zeit die Verpuppung eines Falters. Er konnte es kaum erwarten, bis der Schmetterling endlich aus seinem Gehäuse schlüpft. Unbedingt wollte er etwas tun, irgendwie den Vorgang beschleunigen. Und so fragte er sich unentwegt, wie er den Falter herauslocken oder ihm helfen könne. Aber ihm fiel nichts ein.
Weil er vor lauter Ungeduld nicht wirklich hinschauen und hinspüren konnte, sah er nicht die ersten Anstrengungen, die der kleine Schmetterling machte, um sich nach und nach aus seinem „Gefängnis“ zu befreien. Sie waren äußerlich auch kaum wahrzunehmen, denn es ging dem Schmetterling ja auch nicht darum, jemandem etwas zu zeigen oder etwas zu beweisen, sondern sich selbst zu entwickeln - aus eigener Kraft etwas Wertvolles zu schaffen, das seiner eigenen Natur entsprach.
Eine lange Zeit kämpfte das kleine Tier verzweifelt, um die Hüllen zu durchbrechen und mit eigener Kraft ins Freie zu gelangen. Und wie jeder Falter hätte er das auch eines Tages geschafft.
Schließlich verlor der Mann leider die Geduld, weil es ihm immer schwerer fiel, dem kleinen Tier die Zeit zu lassen, die es für seinen notwendigen, natürlichen und ureigensten Kampf benötigt hätte. Er hielt es einfach nicht mehr aus, er war zu schwach dafür. Er wollte unbedingt helfen.
Also beschloss er, die Sache zu beschleunigen. Mit einer feinen Schere drang er tief in das Gehäuse des Tieres ein, um vorsichtig und behutsam, aber dennoch gegen den Willen des Falters, die Fäden des Gewebes zu zerschneiden, um den Ausgang zu erweitern. Dabei war der Schmetterling eigentlich noch gar nicht so weit, das Gehäuse zu verlassen. Doch nun kam er ohne jede Anstrengung und mit großer Leichtigkeit heraus.
Aber wie eigentümlich war er gestaltet! Ein unförmig aufgedunsener Körper und an jeder Seite kleine, lächerlich zusammengeschrumpfte Flügel!
Die unkluge Hilfe und übereilte Zärtlichkeit, die so drängende Ungeduld des Mannes und seine Unfähigkeit, dem Schmetterling die Zeit zu lassen, die er nun mal brauchte – all dies hatte das Verderben des Tieres verursacht. Gerade der Kampf, den sein Körper beim Herausschlüpfen hätte erleiden und durchstehen müssen, hätte erst die Lebenssäfte des Schmetterlings in die Flügel gepresst. Das war nun nicht geschehen. Der Falter blieb eine elende Missgestalt.
Niemals in seinem ganzen Leben würde dieser hoffnungsvolle Schmetterling fliegen und seine wahre Pracht entfalten können, niemals der wundervolle „Traumfalter“ werden, als der er eigentlich „gedacht“ war. Nur weil der Mann zu ungeduldig gewesen war und es nicht ausgehalten hatte, nur weil es ihm zu lange gedauert hatte, bis das kleine Tier sich endlich aus eigener Kraft befreit hatte. Er hatte dem Tier nicht die Zeit gelassen, die es selbst gebraucht hätte. Viele Entwicklungen brauchen einfach ihre Zeit – und man sollte sie ihnen auch lassen, selbst wenn es einem noch so schwer fällt.
Wie oft wollen wir dem Druck von Leiden bei uns selbst ausweichen oder ihn anderen ersparen - und verhindern dabei die Ausreifung und Entfaltung kostbaren Lebens. Mitleidig schwach oder aus Harmoniesucht und eigener Hilflosigkeit das Wachsen anderer durch übereilte oder ungefragte Hilfe zu behindern, nur um Reibung, Auseinandersetzung, Ecken und Kanten aus dem Weg zu gehen - das ist keine Liebe, sondern Angst!!!
Und das schmerzvolle, aber notwendige Reifen anderer zu verhindern, hat ebenfalls nichts mit Liebe zu tun ... Wir können nur nicht aushalten, das mit anzusehen.
Seien wir deshalb auch nicht schwach in der Liebe zu Menschen, die uns anvertraut sind oder die sich uns anvertrauen! Weichliche Liebe und ständige Sanftheit kann so manches Ausreifen und Entfalten verhindern. Schade um das ungelebte Leben, was entstanden wäre, hätten wir mehr Geduld gehabt und länger auch mal etwas ausgehalten …
(Der Antaghar)