Der Aggenstein ...
Da gibt es auch noch eine Allgäuer Sage dazu:
"Hoch oben am Aggenstein, ein Stücklein unter der Nordwand, haben die Venediger ein wahres Märchenschloss. Der größte Teil ist zwar unterirdisch, aber ein Stück ragt doch über den Boden heraus. Alle sieben Jahre kann es ein Mensch sehen, und, wenn er Glück hat, sogar den Venedigerkönig dazu. Aber wenn dieser Mensch nicht ganze sieben Jahre darüber schweigen kann, muss er unfehlbar tot umfallen, sobald er auch nur ein Wörtlein darüber verlauten lässt. Das Schloss ist so herrlich, dass man es gar nicht beschreiben kann. Der König trägt keine Krone, sondern einen goldenen Kapuzenmantel; sein langer Bart ist ganz von Gold- und Silberfäden, und er wickelt ihn mehrmals um den Leib. Im Gebiet des Aggenstein und bis über den Breitenberg duldet aber der Venedigerkönig keinen Übeltäter, der seine Schuld noch nicht gesühnt hat.
Einmal hatte ein Pfrontener bei einem Kindsmord mitgetan und, um selber loszukommen, alles auf die Mutter des Kindes geschoben. Nun wollte er auf dem kürzesten Weg in Tannheimertal hinüber. Da aber hielten ihn in der Mulde zwischen dem Breitenberg und dem Aggenstein ganz plötzlich Kapuzenmännlein fest. Der Mann wollte sie abschütteln, aber das ging nicht. Er schlug nach ihnen, aber er traf sich selber. Die zwei Männle legten ihm eine Binde um die Augen und, er mochte wollen oder nicht, er musste mit ihnen gehen.
Als sie ihm die Binde abnahmen, sah er sich in einem Gerichtssaal vor dem Venedigerkönig und seinen Schöffen. Alle hatten die Kapuzen tief ins Gesicht gezogen. Vor dem Burschen aber stand ein Tisch, auf dem ein Spiegel lag; auf diesen Spiegel deutete der Richter. Schon beim ersten Blick merkte der Gefangene, um was es hier ging; aus dem silbrigen Glas schaute ein totes Kindlein. Der Mörder schlug die Augen nieder, aber eine Stimme rief: "Schau weiter, was du verschuldet hast!" So musste er im Spiegel ein Ereignis sehen, dem er vor Jahresfrist feige ausgewichen war; Die Henker führten ein todbleiches Weib zum Richtblock. Der unselige Mensch erkannte es sogleich und vermochte kein Wort mehr hervor zu bringen. Er zitterte am ganzen Leib und hatte nicht mehr die Kraft, um Gnade zu flehen. Er wusste mit einem Male, was er verdient hatte, und sank tot zu Boden.
Die Männlein aber lassen keinen Unreinen in ihren Berg. Sie haben den Leichnam des Gerichteten zu Tal getragen und hinter die Kirchhofmauer gelegt. Erst sieben Jahre später erzählte der Mesner die Geschichte.
Er hatte es mit eigenen Augen gesehen, wie die Venediger mit dem Toten den Berg herabgekommen waren.
(aus Allgäuer Sagen - Hermann Endrös und Alfred Weitnauer)