@Ludivine
Entschuldige die Verzögerung, ich hatte viel zu tun und wollte nicht oberflächlich antworten. Es ist etwas lang geworden, weil ich außerstande bin, mich kurz zu fassen.
Was ist an der Erkenntnis, dass es dem Westen nicht um Religion geht, sondern um Macht und Kontrolle u.a. über Bodenschätze, moralisch verwerflich?
Es hängt sehr davon ab, was die Schlussfolgerung dieser recht banalen und m.E. zu kurz greifenden Erkenntnis dann ist.
Die Denunziation der falschen Versprechen der bürgerlichen Gesellschaft hat Recht, wo sie mit der Intention einhergeht, die Erfüllung besagter Versprechen einzufordern.
Genau an dieser einfordernden Intention ist bei vielen aktuellen Kritikern des Westens und seiner Parolen aber sehr zu zweifeln. Man beklagt etwa, dass es dem Westen im Orient nur um Naturschätze ginge, und leitet aus dieser "Entlarvung" sogleich die Berechtigung ab, mit auffälliger Mühelosigkeit alle anderen westlichen Ansprüche wie etwa Aufklärung, Emanzipation, Mündigkeit, Menschenrechte als bloße Propagandatricks, als immer schon hohles Gerede zu verwerfen.
Zu guter Letzt wird unter Hinweis auf das Versagen des westlichen Fortschritts gerne noch das gleichberechtigte Nebeneinander der verschiedenen ethischen Weltsichten gefordert, als wäre es eine reine Frage des kulturellen Geschmacks, ob z.B. Frauen als erwachsene Menschen zu behandeln sind oder vielleicht doch lieber als Eigentum, Lasttiere und Zuchtvieh.
Es kommt aktuell darauf an, speziell die muslimischen Zustände zu skandalisieren, in denen den Menschen elementare Rechte vorenthalten werden, die in der französischen Menschenrechtserklärung bewusst
universelles, in der amerikanischen Unabhängigkeitserklärung
unalienable (unveräußerlich, unabdingbar) genannt wurden. Sie sind moralisch immer schon und überall gültig, seien sie "gewährt" worden oder nicht, seien es verfeindete oder verbündete Staaten, sei es innen- oder außenpolitisch opportun oder nicht.
Dass soviel Terror ausgeübt wird, hat nicht zuletzt auch damit zu tun, dass Menschen sich gegen die religiöse Mafia zur Wehr setzen und nach individueller Freiheit streben. Ihnen sollte unsere ganze Solidarität gelten, aber wir lassen sie wieder und wieder im Stich und nennen es auch noch "Toleranz".
Diejenigen im Westen, die öffentlich die eklatanten Verbrechen islamischer Staaten und Banden gegen die Menschheit rationalisieren, relativieren, zum schützenswerten Kulturgut erklären, gehören als Schreibtischtäter und Kollaborateure beschimpft. Salman Rushdie brachte es nach den Anschlägen auf Charlie Hebdo auf den Punkt: "What we can do, is not give a fucking inch." (Was wir tun können, ist keinen verdammten Zoll nachgeben)
In Deutschland wird immer noch sehr idealistisch gedacht, man hält es hierzulande schlecht aus, wenn humanistische Anliegen und materielle Interessen ineinander verflochten sind. Aber dieses stets als große Erkenntnis vermeldete "die machen es ja nur wegen des Öls" hat ein Moment des Unerwachsenen, es zeugt von einer sehr verträumten, sehr weltlosen Sicht, die auch schnell in bequeme Wut gegen die "Interessen" von echten und vermeintlichen Strippenziehern, Waffenkonzernen, Geheimdiensten, Illuminaten und sonstiger ominöser 1% umschlagen kann, die angeblich von der Wall Street aus vom Goldpreis bis zum Wetter alles kontrollieren. Das ist dann das lukrative Metier von antiamerikanischen, antiwestlichen Hetzrednern wie der in diesem Thread kurz gefeierte Hagen Rether.
Ich finde es wichtig, festzuhalten, dass Menschen und Organisationen mit Motiven, die alles andere als lauter waren, geschichtlich große Fortschritte ermöglichten. Und manche Fortschritte, die erst noch geleistet werden müssen, müssen ebenfalls von den real existierenden, "egoistischen" Akteuren unserer Realität vollbracht werden, von interessegeleiteten Menschen halt. Der Widerspruch zwischen Prinzipien und Interessen muss keiner sein, wenn man beide ernsthaft reflektiert.
Ein Beispiel, passenderweise ein französisches: Die Intervention der französischen Armee gegen die Islamisten in Mali vor zwei Jahren geschah nicht aus reiner Güte. Es ging um postkoloniale französische Interessen, präventive Flüchtlingspolitik, Uranvorkommen, vorgelagerte Terrorabwehr, usw. Das ändert nichts daran, dass die Menschen nach der Befreiung auf den Straßen tanzten und ostentativ Gauloises rauchten, was von den Islamisten zuvor verboten worden war.
Und wer ist die unerwünschte sexuelle Minderheit im arabischen Raum?
Sorry, da war ich ungenau, vielleicht weil ich die x-te Diskussion darüber vermeiden wollte, ob ich alle Menschen dort über einen Kamm schere. Ich tue es nicht. Trotzdem bzw. gerade deshalb hätte hier "im islamischen Raum" stehen sollen. Damit wäre klar, dass ich vor allem Homosexuelle meinte, die vor, nach und vielleicht sogar während des Besuchs der bekopftuchten Damen Roth und Wöhrl im (nicht-arabischen) Iran aufgeknüpft wurden.