Einspruch, Sachlichkeit und soziale Integration
Liebe Mitleser, entschuldigt, wenn ich in einem Großteil dieses Beitrags vom Thema abweiche; der themenbezogene Teil startet nach der Markierung
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Zunächst möchte ich aber einen Einspruch erheben:
In einigen vorangehenden Beiträgen wurden Begriffe in den Raum geworfen und Behauptungen aufgestellt. Mir fehlt hier oft der Bezug zur Sachlichkeit, vor allem bei:
1. "neuronale Geschwindigkeit"
Physikalisch arbeitet jedes Gehirn gleich schnell: im Elektroimpulsbereich, der nahe an der Lichtgeschwindigkeit liegt. Von daher ist der Begriff unrichtig und irreführend - das einzige, was "leistungsfähige" Gehirne schneller können, ist die Anzahl paralleler Verarbeitungsvorgänge - die aber alle gleich schnell ablaufen. Im konkreten Fall: Nein, das Hirn des Jungen ist nicht schneller, möglicherweise tut es aber mehr gleichzeitig.
2. Wissensnetz
Der Begriff ist irreführend, weil er eine falsche Vorstellung menschlicher Erinnerungs- und Schlußfolgerungsfunktionen abgibt: Ein "echtes" Wissensnetz (wie z.B. eine relationale Datenbank) ist strukturell statisch, während sich die Struktur des menschlichen Wissens ständig wandelt. Hätte ein Mensch ein "Wissensnetz", wären Kreativität und Innovation erschwert, und nur ein extrem schwaches Netz würde einen Vorteil erbringen. Der Begriff passt eher in die Informatik und Kybernetik, und ist hier schlicht falsch.
3. Lernstrategien
..sind durchaus bei Menschen vorhanden, aber haben nichts mit Intelligenz zu tun. Wie der Begriff schon sagt, handelt es sich dabei um gewählte oder erlernte Methoden zur Verarbeitung von Erfahrungen - immer in Abhängigkeit von Emotion, Motivation, Bewusstsein und Willen. Heißt: Dumme können prima lernen und Intelligente nichts kapieren, wenn sie wollen, mögen, sich danach fühlen und die Sinnhaftigkeit erkennen - oder auch nicht. Der Zusammenhang mit Intelligenz ist keinesfalls gegeben.
Begabung und frühkindliche Erlebnisse, Fremdsprachen
Diese Behauptungen sind populistisch gestützt (d.h. man denkt: Ja, klingt logisch), sind aber nicht haltbar. Rembrandts Vater war Müller, Leonardo da Vincis Vater war Notar, Freddie Mercurys Vater war britischer Diplomat, Goethes Papa war Jurist, Madonnas Dad war italo-amerikanischer Automechaniker (sie spricht kein Italienisch), und Dieter Bohlens Vater hatte eine Straßenbaufirma (na, Ausnahmen bestätigen die Regel). Ich selbst komme aus einem kleinen Dorf und habe mich über die "komische" Aussprache amerikanischer Namen gewundert bis ich 14 war, heute spreche ich vier Sprachen leidlich fließend - dank Schulunterricht.
Es könnte weitergehen, aber an dieser Stelle nur meine Bitte: Wenn wissenschaftlich definierte Begriffe benutzt werden, dann bitte nicht willkürlich; und wenn eine Theorie oder Definition benutzt wird, dann fundiert - denn ansonsten klingt es sehr schnell lächerlich.
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Wie versprochen, der thematische Teil:
Mal ketzerisch gefragt: Müssen wir uns wirklich verbiegen, um Hochbegabte zu verstehen und ihnen alles recht zu machen? Ist das für diese Kinder denn überhaupt förderlich, wenn wir ihre hochperformanten Hirne noch anfeuern, um sie dann nach Hochbegabtenschule und Extremförderungsstudium in eine Welt zu entlassen, die sich für sie in Zeitlupe bewegt?
Vor etlichen Jahren habe ich versucht, Menschen und Computer einander näher zu bringen - und damals waren Bedienoberflächen noch unkomfortabel, komplex, unübersichtlich, und die von der Maschine gelieferten Ergebnisse waren für Uneingeweihte unverständlich. Aber superschnell.
Nach kurzer Zeit erwies sich, das es unpraktisch ist, die Menschen den Computern anzupassen - also hat man es umgekehrt gemacht: Denn all die schönen Dinge wie Windows, Firefox, Mäuse, iPads, Touchscreens sind nur Hilfsmittel, damit die Computer besser verstehen was Menschen von ihnen wollen. Was für die Computer bedeutet, das sie mehr leisten und oft lange warten müssen, bis sie zum arbeiten kommen - und dann noch mehr arbeiten müssen, um ihre Ergebnisse den langsamen Menschen verständlich zu machen.
Und da, genau da denke ich manchmal, das wir mit der Hochbegabtenförderung ähnliche Fehler machen. Wir passen die Welt an die Begabten an, was ihnen aber am Ende schaden wird. Begabung bedeutet auch, Verantwortung zu lernen und verantwortlioch zu handeln - nicht den Anspruch, dass alle nach meiner Pfeife tanzen weil mein IQ bei 137 ist.