Utopia
Ich war an einem Abend im Jahr 1984 bei meinem Freund, und es war bereits sehr spät, als er noch den Fernseher einschaltete. Wir hatten ein paar Stunden geredet und geraucht – wahrscheinlich zur Musik von Velvet Underground – und waren eigentlich ziemlich müde. Im Nachtprogramm des ZDF startete grad ein Film. Er sollte uns für geschlagene dreieinhalb Stunden jegliche Müdigkeit aus dem Körper jagen: „Utopia“ von Sohrab Shahid Saless. Ein Film, der nicht durch rasante, actiongeladene Szenen fesselt, sondern durch das Gegenteil. Es passiert nicht viel, wenn man von der unerwarteten Wendung am Ende absieht. Aber das, was passiert, lässt einen ebenso aufgewühlt wie ratlos zurück.
Es geht um fünf Frauen und einen Mann, fünf Huren und ein Zuhälter. Der Puff ist eine Berliner Altbauwohnung, aus dem es kein Entrinnen gibt. Und eben das ist die Frage: Warum hauen die nicht ab? Sie lassen sich wie Dreck, wie Sklavinnen behandeln. Sie lassen sich demütigen, schlagen, vergewaltigen und – nicht der Rede wert – ausbeuten.
Es macht sich ein bedrückender Stumpfsinn bemerkbar, und man ahnt, daß man sich in einer schwer hinzunehmenden, aber nicht seltenen Enklave gesellschaftlicher Wirklichkeiten befindet. Die Wände, aus denen man während des Films nur ein einziges Mal herauskommt – wenn der Zuhälter seine Ware zur Pflichtuntersuchung karrt – diese Wände sind die Grenzen einer Welt, von denen es sehr viele gibt. Man sieht sie nicht, weil man eben nicht durch Wände und Türen sieht. Man will es auch nicht sehen. Wenn man aber diesen Film sieht, muss man.
Es sei denn, man schaltete weg. Aber das hinterließe diesen herben Nachgeschmack, der immer dann zu schmecken ist, wenn man nicht einfach so, fast unbewusst, wegsehen, überhören oder vorbeigehen kann, sondern sich aktiv aus einer Situation manövrieren muss, die eigentlich bittere Klage und Appell ist.
Utopia, BRD 1982, 198 Min.
Regie: Sohrab Shahid Saless
Buch: Saless, Manfred Grunert
Kamera: Rarnin Reza Molai
Darsteller: Manfred Zapatka, Imke Barnstedt, Gundula Petrovska, Gabriele Fischer, Johanna Sophia, Birgit Anders