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Von der vorläufigen Prämisse ausgehend, dass Intelligenz als quantitative und qualitative Denkleistung und -kapazität zu verstehen ist, wäre eine Spekulation über den Nutzen der eigenen Intelligenz unvollständig, blendete man hierbei den herrschaftlichen Aspekt aus, welcher jeglichem Denken anhaftet. Menschen, die intelligenter als der Durchschnitt sind und zudem die nötige Bereitschaft aufbringen, werden gerne mit Verwaltungs- und Aufsichtsaufgaben betraut. Noch intelligentere Menschen befassen sich mit abstrakten, taktischen, strategischen Fragen effizienter und nachhaltiger Planung und Führung. An ihrer aller Spitze sitzen aber seltsamerweise keine unbeschränkt erleuchteten Geistwesen, sondern vielmehr immerfort weiterratternde, unfassbar stupide Kassenautomaten, deren verrückten und wahrlich unmenschlichen Bedürfnissen zu dienen jedwedes Denken sich von Anbeginn an kompromittiert findet. Die Kartographierung der Welt bedeutete zugleich ihre Kolonisierung, alle wertvollen Fortschritte der Naturbeherrschung erwiesen sich immer auch als Werkzeuge noch gründlicherer Unterwerfung der menschlichen Natur. Wissenschaften verknöcherten zu methodologisch abgezirkelten Disziplinen, fragende Philosophien zu antwortenden Religionen, krisenhafte Individuen zu krisenmanagendem Personal.
Denken behält immer ein inhärentes, einfach nicht auszumerzendes Moment von Befreiung, Dissidenz, Aufbegehren, Durchschauen, Erkenntnisglück. Aber es entwickelte sich stammesgeschichtlich gesehen zunächst aus der schieren Not, der kaum begreifenden Frustration und grübelnd kompensierenden Ohnmacht unserer Vorfahren. Die hat man sich ohne große Sentimentalitäten als hungrig zusammengerottete, grunzend umherschweifende, pelzige Räuberbanden unter der jeweiligen Führung eines Tyrannen reinsten Faustrechts vorzustellen. Was war wohl der erste elaborierte Gedanke eines
homo sapiens? Vielleicht ein Mordplan.
Menschliche Intelligenz hat sich nicht nur als sublimierte Aggression im Dienst der Herrschaft entwickelt, sie ist auch Ergebnis ihrer systematischen Förderung und Formung als taktischer Vorteil im Konkurrenzkampf, als wissender Blick des Feldherren, als Fallen und Bluffs durchschauender Spionagebericht, als übertölpelnde Gewitztheit beim Handel. Nicht umsonst bezeichnen sich Nachrichtendienste im angelsächsischen Raum als "intelligence", mit bewusstem Anklang an die Feindanalyse. Freilich stimmen sie nicht immer mit dem eigenen Anspruch überein! Der signifikante bis alles entscheidende Vorteil reellen, unmanipulierten Wissens über die betreffende Lage jedenfalls knüpft ganz positivistisch und ohne moralistischen Beiklang an den Wahrheitsanspruch in der Philosophie. Die Wahrheit - die adäquate Beschreibung der Wirklichkeit - ist sozusagen der unabdingbare Gebrauchswert wirklicher Intelligenz. Dieser implizite Anspruch letzterer und die ihr von der Herrschaft dafür gewährten Privilegien und Alimente müssen sich notwendig hieran erweisen. Es bedarf stimmiger und verlässlicher Analysen, ganz gleich, was man den Massen zu verkaufen gewillt ist. Und dies ist die
crux der Intelligenz: Wenn die schiere Gewalt unter intelligenter Beratung allmählich zur Herrschaft gerinnt, verwandelt sich der willkürliche Zugriff auf den Einzelnen in einen systematischen. Und genau so dialektisch bleibt es mit jedem Fortschritt, der durch angewandte Intelligenz entstand: Die Herrschaft schreitet ebenso fort, bis ins Innerste der Menschen, bis in die Genese ihrer Gedanken und Bedürfnisse, welche weit konstruierter und fremdbestimmter sind als sich die meisten eingestehen. Bei vielen überdurchschnittlich intelligenten Individuen verhält es sich sogar so, dass ausgerechnet ihre Begabung, komplexe Zusammenhänge zu erfassen, kombiniert mit dem grundsätzlichen Streben allen Denkens zum Totalen, sie zu lückenlosen Denksystemen verleitet. Intelligente Menschen, die schließlich die Stimme ihres Gewissens erstickt haben, sind effektiver im Verdrängen und geschickter im Rationalisieren, konsequenter in der Ideologieproduktion und auch unbeirrbarer in der Elaboration von Wahngebilden. Die Frucht der Erkenntnis scheint für sie vergiftet gewesen zu sein, denn ihr abschnurrender, ständig seines Gegenstandes entratender Verstand gaukelt ihnen die immer gleiche, leere Überlegenheit vor, wo es auf immer neue, staunende Einsicht ankäme. Und was ist erschreckender als die Dummheit der Klugen?