Ich kann bestimmte Überzeugungen nicht so ohne Weiteres in Bausch und Bogen verwerfen. Wenn ich stichhaltige Argumente habe, kann ich mich gegen etwas aussprechen und Behauptungen als nicht zutreffend beurteilen – und ich kann es nur dann. Die Behauptungen, über die man sich hier ausgesprochen hämisch auslässt, kann ich nicht beurteilen, weil ich weder weiß, worauf genau sie sich stützen, noch weiß ich, ob es bereits stichhaltige Argumente gegen sie gibt. Vorläufig kann ich somit auf eigene Faust diese Überzeugungen vor dem Hintergrund meiner eigenen Vorstellungen und Überzeugungen bedenken.
Dabei stelle ich fest, daß es gewisse Stimmigkeiten gibt, die zwar im Bereich des Ungefähren und Unbegründeten, aber Vorstellbaren liegen. Und genau dieses Vorstellbare ist es, daß uns als Menschen auszeichnet. Nehmen wir die Sprache und die Schrift; sie ist eine Vermittlung zur Welt, von der wir seit einigen tausend Jahren zunehmend getrennt leben. Wenn man die Flusser’sche Genealogie der Kommunikation zugrundelegt, kamen wir von ersten Plastiken (Venus vom Hohlen Fels) über Höhlenbilder zur Schrift (und dann zum binären code), wobei sich die gesprochene Sprache unter dem Einfluss dieser Medien ständig wandelte.
Mit den Plastiken wurde aus der damaligen Seinsweise, dem 4-dimensionalen In-der-Welt-Sein, die Dimension der Zeit herausgenommen. Die Höhlenbilder sind entstanden, weil der Mensch gewissermaßen einen Schritt weg von der Welt tat und sich einen Ausschnitt einbildete, um ihn auf einer Fläche in Szene zu setzen. Von diesen verbleibenden zwei Dimensionen blieb mit dem dann folgenden Schritt weg von den Bildern die eine Dimension der Schrift übrig. Aus ihr haben wir mit dem nulldimensionalen Computercode diese letzte Dimension getilgt.
Die Venus vom Hohlen Fels ist ein Symbol, und zwar eines der Fruchtbarkeit. Sie stellt eine schwangere Frau dar, die in der üppigen Blüte des Lebens steht. Das Leben an sich wird hier als Wunder gewürdigt und gefeiert, man war sich bewusst, daß man es hier mit einem zauberhaften Vorgang zu tun hat, der das allestragende Fundament der Existenz ist. Daran hat sich nichts geändert, gerade weil wir mit Apparaten (die wir infolge der Entwicklung der Schrift, die zu Wissenschaft führte, die zu Technik führte) zusehen können, wie sich zwei Zellen vereinigen, teilen und sich zu einem komplexen Lebewesen organisieren.
Gerade weil wir wissen, daß die Elemente, aus denen wir bestehen, nahezu komplett in längst vergangenen Sonnen erbrütet und im Raum verteilt wurden und sich nun, in den Molekülen der DNS, zu einer Bibliothek aus vier Buchstaben zu einer Doppel-Helix ordnen, die von Minisystemen aus ein paar Eiweißen und Säuren geöffnet, gelesen und wieder geschlossen wird – gerade dieses Wissen bestätigt das Staunen und die Demut der Menschen, die vor 40000 Jahren mit ihrer Venus ein Symbol für dieses Wunder schufen.
Es ist nicht so, daß Wissenschaft und Wissen die Welt entzaubern, jedenfalls nicht automatisch. Wir wissen alle, daß die Welle von Erkenntnis, die seit Beginn der Aufklärung um den Globus zieht, nicht ausschließlich Gutes bewirkt hat und daß sich daran nichts ändern wird. Es hat Unvorstellbares gegeben, und wird Unvorstellbares geben. Pauli hat sich Teilchen ausgedacht, die unvorstellbar waren und immer noch, längst nach deren Bestätigung, unvorstellbar sind.
Es ist unvorstellbar, daß unsere Sonne 700000 Tonnen Wasserstoff zu 695000 Tonnen Helium brennt und die verbleibenden 5000 Tonnen Gewicht in Form von Energie verliert – in jeder Sekunde. Es ist unvorstellbar, daß sie dabei soviele von Pauli postulierte Teilchen in alle Richtungen verschießt, daß wir pro Quadratzentimeter Körperfläche, die wir der Sonne zuwenden, von 60 Milliarden Neutrinos durchschossen werden – ebenfalls in jeder Sekunde.
Also; solange mir nicht aus beleumundeten Kreisen zweifelsfrei hinterbracht wird, daß es aus Willenskraft, tiefgründender Überzeugtheit oder vergleichbaren Gründen nicht möglich ist, Einfluss auf Erbmaterial zu nehmen, kann ich mir Gedanken darüber machen.