Genussfähigkeit ist eine Eigenschaft, die interessanterweise sehr eng mit der Kopf-Bauch-Trennung zu tun hat. Ich bin davon überzeugt, daß diese Trennung einerseits eine fehlgeleitete Annahme, andererseits aber eine entscheidende Bedingung des Erlebens ist. Das heißt, daß diese Annahme – oder besser; Überzeugung – zu einer fortlaufenden inneren Auseinandersetzung führt, in der man quasi unentwegt auf dem Schirm haben muss, was im jeweiligen Moment der Fall ist; Kopfgesteuert oder Bauchgesteuert. Diese Trennung bringt nämlich einen Zwang zur Reflexion mit sich, über die man versucht, beispielsweise den Moment des Genießens, des Fallenlassens und der Hingabe sehr bewusst vom Kopf – dem angenommen Gegenspieler des Gefühls – zu unterscheiden.
Wer also Kopf und Bauch klar voneinander trennt, versieht beide Teile mit einer je vom anderen wesentlich verschiedenen Bedeutung. Nun; weil sie als von ihrem Wesen her nicht miteinander vereinbar wahrgenommen werden, entsteht dieser Zwang zu einer kontrollierenden Reflexion. Man sieht sich somit ständig aufgerufen, den aktuellen Zustand als entweder kopfig oder fühlig zu bewerten.
Diese Überzeugung kann vielfältig begründet werden, unter anderem mit den unterschiedlichen Erfordernissen der beruflichen und privaten Sphäre, wobei jene kopfgesteuert, diese aber bauchgesteuert sei – oder sein sollte. Wie dem auch sei; hier geht es wohl eher um die private Sphäre und die Frage, wie dort das eigene Erleben und Genießen verwirklicht wird.
Diese Überzeugung kann aber nicht stichhaltig begründet werden. Man denke z.B. an einen Text, der einem intensive Gefühle beschert und schier den Atem raubt. Hier ist schon die Formulierung „er beschert / raubt einem etwas“ der springende Punkt, denn das kann er selbstredend nicht. Ich lese den Text und spüre eine emotionale Reaktion, daß heißt ich dekodiere eine Linie aus geordneten Zeichen (Symbolen), weil ich die Kulturtechnik des Lesens beherrsche, und ich erzeuge eine Repräsentation der Bedeutungen, die ich aus dieser Linie herausklaube, um am Ende mit einem Gemütszustand den Text wieder zur Seite zu legen.
Ebenso ist es mit wortlosen, also stillen Zärtlichkeiten. Mein Gemüt reagiert auf diese Zärtlichkeiten nicht mit wohligen, erfüllenden Gefühlen, weil es Zärtlichkeiten sind, sondern weil jemand sie mir schenkt, den ich kenne und dem ich mein Vertrauen schenke. Es gibt also eine Vorgeschichte, die nicht aus diesen wohligen, erfüllenden Zärtlichkeiten, sondern aus einer Phase der Annäherung, des Kennen- und Vertrauenlernens besteht, die anfangs vom Lesen der Zeichen und Symbole des Anderen bestand.
Es ist also immer beides präsent, und zwar als die beiden Aspekte des Erlebens überhaupt. Wer den Verstand grundsätzlich vom Gefühl unterscheidet, muss sich immer entscheiden, ob er jetzt denken oder fühlen will. Er muss also beides getrennt wahrnehmen und konzentriert sich prinzipiell auf eines von beiden, während er das andere zur Seite schieben oder kontrollieren will. Dabei ist in jeder denkbaren Situation beides sehr deutlich zu empfinden und zu genießen.
Ich sehe somit im Eröffnungstext durchgängig diese Trennung, ein Entweder-Oder bestimmter Voraussetzungen. Es gibt meiner Überzeugung nach keinen festen Zusammenhang zwischen Intelligenz und Sinnlichkeit, sondern nur einen solchen zwischen Sinnlichkeit und Genussfähigkeit.