Kompetenzvermutung
@********tten
Wenn ich immer allen Leuten zutraue bereits alles zu wissen, auch wenn sie gegenteilige Aussagen machen, sind Diskussionen praktisch überflüssig.
Da ich dich auch nicht kenne, müsste ich in diesem Fall davon ausgehen, dass du meinen Beitrag komplett gelesen hast, auch die Stelle an der sich schreibe "legt man den Zeit-Artikel zugrunde". Diese Antwort wäre also überflüssig, weil ich wüsste, dass du eigentlich schon weißt, dass ich auf dieser Basis geantwortet habe und nicht aus einem persönlichen Gespräch mit Frau Neiman.
Ich werte die im Zeitartikel von ihr dargestellte, und sicher verkürzte, Ansicht aus zwei Gründen ab:
Erstens, weil sie in der dargestellten Weise in der Diskussion eigentlich längst überholte Positionen äußert, siehe meinen ersten Beitrag.
Ich erlaube mir dies zweitens, weil sie diesen Artikel, außer die Zeit hat ihre Methoden geändert, autorisiert hat und damit für die Darstellungsart (mit) verantwortlich ist. Ich kann in dem Artikel aber eben nicht die Argumente finden, die erkennen lassen, dass sie auf der Höhe der Debatte ist. Warum sollte ich ihr, wenn der Artikel für mich dagegen spricht, jene Kompetenz zuschreiben? Was hat das mit Intelligenz zu tun? Es gibt zahlreiche ziemlich intelligente Menschen, die unglaublich blöde Dinge zur Geschlechterquote/Gleichstellungsdebatte äußern.
So wie sie dargestellt wird, fehlt es ihr nach meinem Gefühl eindeutige an Empathie für die Kerne der Debatte. (Achtung Abwertung!) Wie soll ich es denn deuten, wenn sie eine Debatte, die für viele Menschen bedeutende Weichen in ihrem Leben stellen kann als "veraltet" abqualifiziert und sich mit dem Ratschlag zitieren lässt: "Frauen, kriegt einfach trotzdem Kinder, geht arbeiten, wird schon!"
Was würde man wohl sagen, wenn jemand zu Ägypten mit der Einstellung zitiert würde: "Die Debatte über Demokratie ist veraltet, egal wie erbittert sie auf der ägyptischen Straße gerade diskutiert wird." Die Debatte ist nicht veraltet, weil die realen Situationen in denen sich Frauen befinden mit den dort diskutierten Problemen belastet sind. Einzelne Positionen in der Debatte sind auch meiner Meinung nach von gestern, aber eine veraltete Debatte ist es dann, wenn die Probleme schon gelöst sind, die Debatte trotzdem wieder aufflammt.
Sie lässt sich mit dem Satz zitieren:
"Nur, wer meint, dass das Problem in Deutschland nur eine Frage der fehlenden sozialen Bedingungen ist, denkt nicht sehr weit." Es sei auch eine Einstellungssache.
Auch hier habe ich drei große Probleme. Erstens ist sie auch hier nicht auf dem Stand der Debatte bzw. kenne ich niemanden, die sich mit dem Thema beschäftigt und behauptet es ginge nur um die sozialen Bedingungen. Das heißt, hier wird eine vereinfachte Sichtweise der Pro-Quote-Fraktion oder Pro-Kinderbetreuung konstruiert, die gar nicht existiert. Zweitens macht der Satz an sich keinen Sinn. Was würde man wohl sagen, wenn jemand zur mangelnden Lust von Kindern noch Fahrrad zu fahren sagen würde: "Nur, wer meint, dass das Problem nur eine Frage fehlender Fahrräder ist, denkt nicht sehr weit. Es ist auch Einstellungssache." Natürlich braucht es
auch die Lust Fahrrad zu fahren, aber ein Fahrrad wäre hilfreich.
Drittens wird suggeriert als wäre die Einstellungssache privat und autonom. Dabei gilt sowohl für Karriere, wie auch für den Kinderwunsch und die Vereinbarkeit von beidem, dass die Einstellung im sozialen Kontext (und damit auch in der Debatte) statt findet.
Sie hat selbst erlebt, wie ihr Professor ihr qua Geschlecht die Fähigkeit zu philosophieren abgesprochen hat. Daher sollte ihre doch klar sein, dass er ermutigende Umfelder gibt und solche, die einen abhalten. (Kompetenzvermutung!) Wenn ihr das jedoch klar ist, aber in Deutschland noch nicht der Fall, wieso ist dann die Debatte veraltet? Sie ist doch hoch aktuell, gerade weil Amerika zeigt, dass dort, wo die Vereinbarkeit selbstverständlich ist, auch die sozialen Bedingungen und Infrastruktur leichter anzupassen sind.
Kurz gesagt: Was in diesem Artikel von Frau Neiman zur Kinder-Karriere-Debatte und Quote zitiert wird, ist für mich keine abweichende Meinung auf der Höhe der Debatte. Sie muss als Leiterin des Einstein-Forums auch nicht auf der Höhe sein, aber es ist schade, wenn man sich mit einem nur halb informierten Unbehagen zitieren lässt, weil sie eben ein Vorbild für andere sein kann.