Tag 1 nach der Hitzewelle
Ein leichter Luftzug auf der nackten Haut weckt mich kurz nach sieben. Durch die weit offenen Fenster streicht eine angenehm kühle Brise. Ich stehe auf und tappe auf bloßen Füßen die Treppe hinunter. Das Thermometer zeigt erfrischende 20 Grad an.
"20 Grad!" verkünde ich dem Hund, der mir gefolgt ist, "das sind 15 Grad weniger als gestern Abend." Auch Zuma ist von der Abkühlung angetan. Sie läuft durch die Haustür, die über Nacht offen stand, nach draußen und schaut, was es in Hof und Garten Neues gibt.
"Wir könnten heute mal wieder wandern gehen", überlege ich beim Frühstück, "was meinst du?" Die letzten Wochen, in denen es zum Wandern definitiv zu heiß war, sind wir vormittags zum Baden gefahren. Das ausgiebige Schwimmen im See war auch schön, aber die täglichen weiten Streifzüge, auf denen wir oft neue Wege und unbekannte Strecken erkunden, haben uns beiden gefehlt.
Gegen Mittag, wenn der Trubel am Badesee zunahm, hatten wir den Heimweg angetreten und die Nachmittage und Abende hinter heruntergelassenen Rollos im relativ kühlen Haus verbracht. Ich hatte gelesen oder Hörbüchern gelauscht, ein wenig Französisch oder Italienisch gelernt oder Gitarre geübt.
Heute aber animierte uns der frische Wind zum Wandern, und wir fuhren zur Alten Heerstraße, wo Napoleon 1813 zwischen Thüringer Wald und Erzgebirge nach Norden Richtung Leipzig gezogen war, wo es zu dem als
Völkerschlacht bekannten Gemetzel gekommen war.
Diese alte Straße war auf weiten Strecken und auf wundersame Weise der "Erschließung des ländlichen Raums", d.h. der Asphaltierung entgangen und zog sich über etliche Kilometer als Feldweg von Sachsen-Anhalt im Norden kommend durch ein Stück Thüringen und weiter südwärts nach Sachsen hinein.
Seit vielen Jahren schon war sie einer meiner Lieblingswege, zuerst zu Pferd, dann zu Fuß hatte ich sie mit allen Seitenpfaden und Nebenstrecken erkundet. Heute also parkten wir endlich wieder mal unter einem der riesigen Windräder, die in Gruppen die Landschaft prägen, und nahmen den luftigen Höhenweg unter die Füße.
In der Nacht zuvor hatte es geregnet, nicht viel, aber genug, um die zahlreichen Schlaglöcher zu füllen, und Zuma plantschte vergnügt durch jedes einzelne. Als rechter Hand ein Seitenweg zum Waldrand führte, schwenkten wir ein und kletterten einen steilen Abhang durch durchdringend aromatischen Kiefernduft talwärts.
Das Tal der Schnauder mied ich normalerweise, seit ich mir einmal von dem verseuchten Wasser eine böse Infektion geholt hatte, die mich drei Tage lang lahmgelegt hatte. Deshalb überquerten wir den Fluss und die parallel verlaufende Landstraße rasch und folgten dem Rand eines ausgedehnten Maisfeldes auf der gegenüberliegenden Talseite.
Querfeldein zu wandern, also abseits von Feld- oder Waldwegen, ist besonders reizvoll, wenn auch oft ein wenig mühsam. Auf dem frisch gegrubberten Feld kamen wir nur langsam voran, fanden aber immer wieder frische Reste von Maismalzeiten, die die Wildschweine hinterlassen hatten. Schwalben und Feldlerchen schwirrten auf der Jagd nach Insekten an uns vorbei, und einmal sah ich eine winzige Eidechse sich durch die Erdschollen schlängeln.
Auf einem Hügelkamm angekommen, entdeckte ich am gegenüberliegenden Waldrand einen großen Rehbock, der an dem tiefhängenden Eichenlaub zupfte. Das Gehörn war deutlich zu erkennen, und ich schaute zu dem Hund, um zu sehen, ob Zuma ihn auch entdeckt hatte. Aber sie hatte die Nase in ein Mauseloch gesteckt und bemerkte nichts.
Lange schaute ich dem Rehbock zu, und erst als ich mich bewegte, um eine Mücke zu verscheuchen, schreckte er hoch und federte mit hohen Sprüngen ins Unterholz davon.
Am Waldrand bogen wir talwärts ab und machten an einer alten Mühle Rast. Ich zog die Karte zu Rate und musste einsehen, dass wir zu weit nach Norden gewandert waren. Wir folgten daher dem östlichen Feldrand zurück zu der Stelle, an der wir den Kiefernwald mit seinem kräftigen Harzduft verlassen hatten.
Als wir schließlich wieder am Auto angelangt waren, zeigte die Gesundheits-App 7,7 km an. Nicht rekordverdächtig, aber nach der langen Pause ganz ordentlich. Der Wind wehte immer noch frisch und kühl, das Thermometer zeigte 24 Grad an.
Auf meiner Haut spürte ich einen leichten Schweißfilm. Es war Tag 1 nach der Hitzewelle, aber immer noch Hochsommer.
(c) luccioladagosto, 10.08.2018