Es war Donnerstag der 5. Oktober 2017 als ich kurz nach halb vier die Arztpraxis betrat und mich auf eine längere Wartezeit einstellte, da ich keinen festen Termin mehr bekommen hatte und der Arztbesuch nicht aufzuschieben war. Gegen viertel nach vier erhob ich den Kopf, denn meine Nase steckte in einem Buch und blickte durch das Fenster nach draußen, als einige wartende Mitpatienten sich über den aufkommenden Wind unterhielten. Auf der Straße und dem Bürgersteig wirbelten die Blätter tanzend über den Asphalt. Nach wenigen Minuten war der Spuk vorbei.
Etwa zwanzig Minuten später verließ ich den Behandlungsraum, zog meine Jacke über, verabschiedete mich von den Sprechstundenhilfen sowie den anderen Patienten und trat hinaus ins Freie. Auf dem Weg zum Auto boten sich einige kleinere abgebrochene Zweige und herumliegendes Laub einen eher friedlichen Ausgang des mächtigen Sturms.
Spontan entschloss ich mich nicht den gewohnten Weg nach Hause zu nehmen, da dieser mich an der Autobahnauf- und -abfahrt vorbeiführte, es dort um die Zeit regelmäßig staute und nahm einen kleinen Umweg am U-Bahnhof vorbei in Kauf, dafür rollte dort der Verkehr.
Als ich den U-Bahnhof hinter mir gelassen hatte, wurde die Fahrbahn in jede Richtung dreispurig, wobei der rechte Streifen parkenden Autos zur Verfügung steht. Die beiden Fahrtrichtungen sind durch einen begrünten Mittelstreifen mit einem hohen Bordstein voneinander getrennt.
Auf Höhe der Bibliothek auf der gegenüberliegenden Straßenseite war ein Baum umgestürzt, hatte einen Wagen unter sich begraben und ragte über zweieinhalb Fahrspuren. Die meisten Autofahrer wendeten über den Mittelstreifen, um einen anderen Weg zu fahren, denn der umgestürzte Baum ragte bis in die Lücke des Mittelstreifen, die als Wendemöglichkeit diente. Ich hätte nicht über den Mittelstreifen gewendet, dass hätte mir wahrscheinlich den Unterboden ramponiert.
Einige ganz Ungeduldige zwängten sich an dem umgestürzten Baum vorbei, wobei sie mit dem halben Auto über den Mittelstreifen fahren mussten - manch einer kennt halt nur einen Weg und der muss es sein - und das im Zeitalter von Navi's und googleMaps.
Ich fuhr bis zur nächsten Kreuzung, bog links ab und fand eine Lücke im Park-Streifen der ÖNVP-Betriebshaltestelle. Ich lief die etwa hundert Meter bis zum umgestürzten Baum, zog die kleine Kompakte aus der Handtasche machte einige Fotos und begab mich wieder zum Auto.
In zehn Minuten wirst du zu Hause sein, dachte ich so bei mir. Dachte ich …. das dicke Ende sollte noch kommen.
Ich stieg ins Auto, fuhr rückwärts aus der Parklücke, auf die Straße und bog an der Kreuzung links ab, vorbei an den letzten Häusern und Berlin's ältester Gaststätte „Alter Fritz“, bevor mich das letzte Stück durch den Berliner Forst führte. Am „Alten Fritzen“ nochmal links abgebogen, die Haus-Baum-grenze passiert, gefolgt von einer Rechtskurve, vor der es zu vermehrter Bremserei kam und kurz nach der Kurve der Verkehr zum Stillstand kam.
Nach etwa einer halben Stunde schickte ich meiner Familie eine SMS mit der Info, wo ich mich befand und alles gut sei und der Anmerkung, dass es bestimmt nicht mehr lange dauern würde. Kurze Zeit später stieg ich aus dem Wagen, zündete mir eine Zigarette an und versuchte irgendetwas im weiteren Straßenverlauf zu erkennen. Die Feuerwehr hatte die Straße weiträumig abgesperrt und ihre Motorsägen leisteten unermüdlich ihre Arbeit.
Nachdem ich meinen Nikotinspiegel aufgefüllt hatte, setzte ich mich wieder ins Auto, da zerrte der Wind wenigstens nicht an Kleidung und Haaren.
Irgendwann sah ich in den Rückspiegel und sah, wie aus der letzten Nebenstraße - die links in der Rechtskurve abging, etwa hundert Meter zurückliegend - mit einer Flatterleine abgesperrt ein Rettungswagen und Löschfahrzeug herauskamen.
Erst viel später erfuhr ich, dass dort in der Nebenstraße die bis dahin eher unbekannte Reporterin vom Baum erschlagen wurde, wie man den großzügigen Medien-Berichten entnehmen konnte.
Ich hatte etwa eine Stunde gewartet, als ich die JOY-Benachrichtigung auf meinem Handy empfing und in der Vorschau sah, dass meine Freundin fragte, wie es uns denn so ergangen sei. Da im Wald der Handy-Empfang miserabel ist und teilweise ganz fehlt, schrieb schickte ich ihr eine Nachricht über meinen Email-Account …. das funktioniert in dieser Gegend wesentlich besser, wie eine Webseite aufrufen.
Kurz darauf klingelte mein Handy und besagte Freundin wurde mir auf dem Display angezeigt. Von Berichten her kannte sie den schlechten Empfang im Wald schon und erlebte ihn nun live, denn gelegentlich verstanden wir nur Wortfetzen.
Wir tauschten uns kurz über die aktuelle Situation aus. Auf meine Nachfrage, ob ich wenden sollte um einen Umweg zu fahren, bekam negativ ich eine negative Antwort, denn sie hatte sich die Webseite mit der momentanen Verkehrslage aufgerufen und da wurde die Umgebung weitläufig mit rot angezeigt.
Inzwischen waren eineinhalb Stunden vergangen und ich stieg erneut aus dem Auto, um mir noch ein wenig Nikotin zuzuführen. Diesmal schloss ich den Wagen ab und schlenderte in Richtung der Absperrung. Da ich nicht zu den üblichen Gaffern zähle und die Arbeiten auch nicht behindern wollte, fotografierte ich mit Zoom aus der Entfernung, doch die Auswirkungen waren gut erkennbar.
Fast zwei Stunden stand ich nun schon im Wald, als ich sah, wie die Blaulichter der Feuerwehr sich entfernten und sendet voller Freude eine SMS an meine Familie mit der Info, das ich bald zu Hause würde. Mittlerweile verspürte ich nämlich einen mächtigen Druck in der Blasengegend. Doch es sollte nicht sein, denn erneut vernahm ich das Geräusch der Motorsägen.
Nach etwa zwanzig Minuten rutsche ich auf dem Fahrersitz unruhig hin und her, der Blasendruck wurde allmählich unerträglich. Ich blickte durch Fenster hinaus und sah, dass die abendliche Dämmerung schon eingesetzt hatte.
Ich stieg aus dem Auto, schloss es ab, schaute mich um und begab mich hinter die Büsche am Straßenrand. Da Xavier ganze Arbeit geleitet hatte und sich kaum noch ein Blatt an den Büschen befand, ging ich etwas tiefer in den abschüssigen Wald hinein.
Schnell die Leggings runter, sich Erleichterung verschafft, Leggings wieder hoch …. alles innerhalb einer Minute.
Ich steckte mir eine Zigarette an und schlenderte zurück zum Auto. Inzwischen war ich mächtig durchgefroren - ich bin ja keine Umwelt-Sau und lass den Motor laufen, um den Wagen zu heizen - und verspürte ein flaues Gefühl in der Magengegend …. etwas Essbares wäre jetzt nicht verkehrt gewesen.
Nachdem ich wieder hinter dem Lenkrad Platz genommen hatte, simste ich mal wieder mit meiner Familie und fragte an, ob ich auf dem Heimweg beim Kroaten anhalten solle, da gibt es die Gerichte auch außer Haus …. wenn es denn mal irgendwann weiter gehen sollte. Der Vorschlag fand großen Anklang.
Es war inzwischen ganz dunkel draußen geworden, Laternen gab es auf der Straßen durch den Wald nicht. Ich spielte gerade Canasta auf dem Handy - das verbrauchte nicht so viel Energie, denn der Akku neigte sich langsam dem Ende zu und zum Laden über das Auto hätte ich den Motor anstellen müssen - als auf einmal Scheinwerferlicht entgegenkommender Fahrzeuge die Umgebung erhellten. Ich blickte erst zur Uhr - drei Stunden - und dann nach draußen und sah die beiden Doppeldecker-Busse des ÖPNV, die am anderen Ende der Aufräumarbeiten die Fahrbahn abgesperrt hatten, wie ich bei meinem Erkundungsgang bemerkt hatte.
Langsam setzte sich die Auto-Kolonne vor mir und Bewegung und ich atmete auf …. doch die Odyssee sollte für diesen Tag noch nicht beendet sein.
Normalerweise bog ich an der Gabelung im Wald links ab …. normalerweise. Aus der Ferne sah ich schon das rot-weiß-gestreifte Absperrband, im faden Lichtschein der einsamen Laterne und Ampelanlage im Wind flattern. Langsam fuhr ich auf die Kreuzung zu, als mich links zwei Fahrzeuge des Technischen Hilfswerk überholten und sich anschickten in die abgesperrte Straße zu fahren - da schienen wohl noch einige Aufräumarbeiten anzustehen. So fuhr ich an der Gabelung geradeaus, was mir einen Umweg von drei Kilometern bescherte.
Die Straße sollte noch für weitere fünf Tage gesperrt bleiben.
In der Dunkelheit und spärlichen Straßenbeleuchtung ließen sich schon einige Schäden und deren Auswirkungen des Sturms erahnen, doch das ganze Ausmaß war erst am nächsten Tag bei Tageslicht zu erkennen.
Ich fuhr die letzte Hauptstraße entlang, als ich in der Nebenstraße immer näher kam, du zu mir nach Hause führte. Einen kurzen Moment überlegte ich, ob ich abbiegen sollte …. aber nur einen kurzen Moment, denn mein Magen machte sich in diesem Augenblick lautstark bemerkbar.
Ich musste über einige Nebenstraßen fahren, da sich weiter vorne auf der Hauptstraße eine Baustellen mit Absperrung in beide Fahrrichtungen befand. So gelangte ich von hinten herum in die Seitenstraße, die sich auf der einen Seite des Eckgrundstücks verlief, auf dem sich das kroatische Restaurant befand. Allerdings kam ich nicht sehr weit, den ein umgestürzter Baum bedeckte querliegend die komplette Fahrbahn und hatte dabei ein Auto unter sich begraben. Doch ich war erstaunt, denn ich hätte mit schlimmeren Schäden gerechnet …. am nächsten Vormittag konnte ich nur eine kleine Beule hinten links ausmachen.
Ich musste nicht lange auf unser Essen warten, auch wenn ich vorher nicht angerufen hatte - die Pfannen scheinen immer heiß zu sein. Mir wurde noch ein Schnaps angeboten, doch ich lehnte dankend ab.
Während ich auf unser Essen wartete hörte ich, wie andere Gäste sich lautstark unterhielten und erfuhr dadurch, dass wenden und den sieben Kilometer langen Umweg nehmen auch nichts gebracht hätten - eine Dame ist die Strecke gefahren und hat zweieinhalb Stunden gebraucht, da auch hier erst die Straßen von umgestürzten Bäumen freigeräumt werden mussten.
Nach Hause fuhr ich über andere Nebenstraßen, wie auf dem Weg zum Restaurant. Was ich so in der Dunkelheit wahrnehmen konnte, hatte hier der Sturm noch mehr gewütet, wie auf den Hauptstraßen.
Eine Kiefer war in etwa sieben Meter Höhe abgebrochen, hing quer über der Straße und hatte noch das Haus auf der gegenüberliegenden Straßenseite getroffen. Wo nun lang?
Ich wollte nicht noch mehr Umwege in Kauf nehmen, wer weiß wie es in den anderen Nebenstraßen aussieht und ich wollte endlich nach Hause. So überlegte und schaute ich, wie ich am besten weiter voran kommen könnte. Doch diesmal sollte mir das Glück hold gewogen sein.
Einen Vorteil haben diese kleinen Nebenstraßen ja: sie haben eine breitere Fahrspur und links sowie rechts daneben ist noch reichlich Platz zu den Grundstücken mit Ihren Zäunen, sodass dort genug Fläche zum Parken ist ohne den Verkehr zu beeinträchtigen.
Der Platz zwischen Baum und Grundstück auf der betroffenen Seite war so breit, dass ich dort zwischendurch fahren könnte.
Kurz vor halb neun stieg ich vor unserem Grundstück aus dem Wagen, schnappte meine Tasche sowie die beiden Tüten mit heißen kroatischen Spezialitäten, verschloss das Fahrzeug, ging durch das Gartentor, den Weg nach hinten, öffnete die Haustür und war endlich im warmen zu Hause angekommen.
Sofort machten sich die schon in Lauerstellung stehenden hungrigen Mäuler über das mitgebrachte Essen her.
Irgendwie war es ein merkwürdiges Gefühl: eigentlich wollte ich nur mal schnell zum Arzt und kaum war ich von diesem zurück, war es auch schon bald Zeit ins Bett zu verschwinden.
Am nächsten Vormittag habe ich mich mit meiner kleinen Kompakten auf den Weg gemacht um einige Impressionen die Sturm Xavier hinterlassen hatte, mit der Kamera einzufangen.
Der Text mit Bildern kann auf meiner Homeage
Homepage "Sturm Xavier" von Sommerwinde gelesen und besichtigt werden.