Am Stausee
Die fünfundfünfzig Elfjährigen sind immer noch mit ihren vier Lehrern im Schullandheim. Heute machen sie einen Badeausflug zum nahegelegenen Stausee. Da die Betreuer vom Schullandheim samt Rettungsschwimmer mitgefahren sind, hat Jorind nicht viel zu tun und kann sich unauffällig von der Meute absetzen. Sie trägt unter Jeans und T-Shirt bereits ihren Badeanzug und sucht sich in einer abgelegenen Bucht ein stilles Plätzchen zum Schwimmen und Dösen.Es ist ein heißer Hochsommertag. Jorind sehnt sich nach einem kühlen Bad. Eine kleine, leicht ansteigende Wildwiese mit blühendem Mädesüß und schmalblättrigen Weidenröschen sieht einladend aus. Der Flecken ist an drei Seiten von Schilf umgeben, in dem ab und zu ein paar Enten zu hören sind. Den Lauten nach führen die Eltern ihren Nachwuchs aus. Auf der vierten Seite ist das Gras mit Himbeerranken und Kanadischer Goldrute durchsetzt und geht ein Stück weiter oben in ein kleines Birkenwäldchen über.
Der Platz ist von keiner Seite einsehbar. Hier könnte man sogar auf den Badeanzug verzichten. Der Entschluss ist schnell gefasst. Jorind streift die Kleidung ab und setzt vorsichtig die nackten Füße ins Wasser. Hier gibt es kein sandiges Ufer. Als sie langsam durchs Schilf watet, wirbelt sie dunklen Schlamm vom Grund auf. Nach einigen Metern lässt sie den Schilfgürtel hinter sich und schwimmt ein Stück hinaus.
Sie dreht sich auf den Rücken und lässt sich vom Wasser tragen. An der Oberfläche hat die Sommersonne den See angenehm erwärmt, doch schon in geringer Tiefe beginnt die Kaltwasserzone. Jorind schwimmt zum Ufer zurück und streckt sich auf ihrem Badetuch aus. Flach auf dem Rücken liegend entdeckt sie einen Mäusebussard, der in geringer Höhe über dem See seine Kreise zieht.
Aus dem Birkenwäldchen ertönt der Warnruf eines Eichelhähers. Jorind dreht sich auf den Bauch und legt den Kopf auf die verschränkten Arme. Träge überlegt sie, ob sie ein wenig dösen oder doch lieber den mitgebrachten Schmöker aus dem Collegerucksack holen soll. Wieder ruft der Eichelhäher, ein paar Elstern stimmen ein, näher jetzt, es klingt laut und ärgerlich. Etwas muss die Vögel alarmiert haben.
Da hört sie ein leichtes Rascheln und Knacken, das plötzlich verstummt. Direkt neben ihrem Arm sind zwei Sandalen aufgetaucht. Jorind dreht sich auf die Seite, um ihren Besitzer erkennen zu können. Ihr Lieblingskollege muss ihr gefolgt sein und lässt sich jetzt neben ihr im Gras nieder.
"Schon wieder beim Faulenzen, Kollegin?"
Doch seine Augen fragen etwas Anderes, und in ihren liest er die Antwort.
Sie küssen sich nicht, und das ist ganz in Jorinds Sinne. Sie hat der Knutscherei noch nie viel abgewinnen können. Da gibt es ganz andere Dinge, die sie mag und die sie in kürzester Zeit von Null auf Hundert bringen. Ein harter Männerkörper zum Beispiel, der sich in voller Länge an ihren Rücken drückt, oder eine Nase, gefolgt von einem Schnurrbart, die ihre Möse durchpflügt. Auch hält sie nichts von Verzögerungstaktiken, und allzu ausgedehnte Ritardandi können sie regelrecht zornig machen.
Nein, der erste Liebestanz muss ein schneller Walzer sein, und ist sie erst auf die Zielgerade eingeschwenkt, kann sie nichts mehr aufhalten. Hat der erste Sturm und Drang sich gelegt, darf gern eine spielerische Plänkelei eine genüssliche zweite Runde einläuten. Doch auch da bleibt sie fokussiert und zielorientiert, wie es einer Lehrerin zukommt.
Auch beim Liebesspiel tendiert ihr Humor zu "hellschwarz", und ihre Einfälle stoßen nicht immer auf Gegenliebe.
Im Schulalltag muss sie ständig formulieren und wird laufend zugetextet. Beim Spiel der Spiele ist sie daher keine Freundin vieler Worte. Blicke und Gesten sind ihr genug, dazu die ganze Skala menschlicher Brunftlaute. Und zum Abschluss ein auf den Mund gelegter Finger oder ein in die Luft geschriebenes großes F, kleines f für "Fortsetzung folgt".