Als ich gestern Abend nach der Arbeit am Reumannplatz von der U-Bahn hochkam, sah ich dieses kleine blaue Männchen auf einer der Bänke beim Amalienbad sitzen. Jetzt sind wir es in Wien ja durchaus gewöhnt, daß am Reumannplatz alle möglichen Gestalten umeinanderhocken, aber ein kleines, komplett blau gefärbtes Männchen?
Es saß ganz ruhig mit geschlossenen Augen da, bewegte lediglich leicht den Oberkörper vor und zurück, so daß ich mir dachte er braucht vielleicht Hilfe … und näherte mich der Bank auf der er saß.
Noch bevor ich ihn erreicht hatte, öffnete er die Augen und sah mich grantig an.
‘Wieso,’ fragte er mit dumpfer, hallender Stimme, die so garnicht zu seinem Aussehen paßte, ‘kannst du mich sehen???’.
‘Öh,’ antwortete ich verdutzt, ‘ich seh dich halt. Warum jetzt auch nicht???’
‘Weil ich mir SO eine Mühe gegeben hab, unsichtbar zu werden!’ schnaubte er empört.
‘Na, da bist ja am richtigen Platz mein ich mal,’ grinste ich. ‘Hier schaut dich niemand zweimal an, vielzuviele abgefahrene Leute, da fallst so schnell ned auf. Aber hör mal, warum wolltest du ausgerechnet heute unsichtbar sein? Willst eine Bank machen?’
‘Schmarrn, Geld bedeutet mir nichts, Erdling! Ich bin hergekommen weil ich einen Menschen mit einer strahlenden, unschuldigen Seele suche.’
‘Ha, ausgerechnet hier??? Hast schon einmal auf der Neugeborenenstation vom AKH nachg’schaut?’
‘Ich sagte ich suche einen MENSCHEN, kein rotgesichtiges, brüllendes Monster’.
Na hey, a man after my own heart! Da mußte ich doch helfend beispringen! Oder?
Nur - wie würden wir unter den tausenden von Leuten die hier umeinanderwimmelten, herausfinden können, wer, wenn überhaupt, nun so eine strahlende, unschuldige Seele hatte?
Der Inder mit dem riesigen Turban, der drüben bei der Straßenbahnhaltestelle seine Zeitungen verkaufte? Eine der alten Frauen die vorsichtig die Stufen des Amalienbades herunterkamen, die müde Schwarze mit dem roten Turban die aus der 67-Bim gestiegen kam?
In diesem Moment bog ein gebeugt gehender alter Mann um die Ecke, sein langes graues Haar wehte im Winde und ebenso sein Bart, er kam mit einem kleinen Wagerl um die Ecke gerattert, auf seiner Schulter saß ein Papagei und im Wagerl schob er ein winziges Lämmchen.
Ich konnte meine Augen nicht von dem Mann lösen, irgendwie kam er mir bekannt vor …
Er wiederum starrte wortlos zurück, sein Blick hatte fast schon etwas Herausforderndes, als ob er sagen wollte: Na komm, mach was dagegen!!
‘Was ist denn das für ein niedliches Lämmchen?’ fragte ich betont harmlos, als das seltsame Gespann an unserer Bank vorbeizog.
‘Hab ich aus Pötzleinsdorf geholt,’ murmelte der alte Mann. ‘Die Arschlöcher hättens glatt verrecken lassen. Das arme Viecherl ist von der eigenen Mutter verstoßen worden und die blöde Funzn die dort Aufsicht macht war nicht in der Lage, dem Tierarzt am Telefon die Situation verständlich zu erklären. Der hat nix kapiert und meinte nur: Das Lamm muß zur Mutter, trinken - und hat ihr wieder aufgehängt. Daß die Mutter ja grad die ist, die es nicht nur wegstößt wenn es trinken will sondern es auch noch extra auf den Boden haut und gegen die Futterkrippe stößt, hat er nicht kapiert. Also bin ich über den Zaun und habs einfach mitgenommen. Hab ja noch Flascherln daheim von die Enkerln.’
Ich war sprachlos. Naja, fast …
‘Pötzleinsdorf? Der Park? Der Streichelzoo da beim Eingang? Du hast einfach das Lämmchen geklaut?’
‘Ich hab ihm das Leben gerettet Oida! Mußte mitansehen wie die Mutter das Tierchen mißhandelt und alle stehen nur rum, schaun blöd, und keiner tut was! Ein neugeborenes Lämmchen so umeinanderzuhauen, und immer wieder ist es aufgestanden und auf zitternden Beinchen auf die Mutter zugegangen, und immer wieder hat sie es weggestoßen, an die Wand gedrückt, sogar mit dem Maul aufgenommen und auf den Boden gehaut! Das war nicht mehr zum Mitanschaun, da mußte ich doch was tun!!!’
‘Ah, äh, ja eh, klar, doch, also du bist wirklich voll der Held, ehrlich, Wahnsinn. Und du willst es jetzt echt die ganze Nacht mit der Flasche füttern?’
‘Naa, zuerst muß ich noch bissl was zammschnorren für die Milch, hab ja nix mehr daheim und kein Geld mehr für den Monat … du hast ned zufällig ein bissl Kleingeld übrig???’
‘Klar, logisch!’ Ich griff tief ins Portemonnaie: ‘Hier, guter Mann, ich hoffe das langt bis zum Ende der Woche?’
Der Alte blickte gerührt auf den Schein, den ich ihm hinhielt, und zum ersten Mal sah ich ein Lächeln auf seinen müden Zügen erblühen.
‘Das ist wirklich sehr großzügig von dir Chef, vielen Dank, küß die Hand Herr Baron! Das machts um einiges leichter, nun kann ich gleich einkaufen gehen und meinen kleinen Freund hier füttern, und all die anderen die daheim schon warten …’
‘Du hast noch mehr Schafe daheim?’ fragte ich in das Kreischen der vorbeifahrenden Straßenbahn hinein.
‘LORA,’ unterbrach der Papagei unsere Unterhaltung, ‘Give us a kiss, LORA’.
‘Keine Schafe,’ erklärte der seltsame Alte. Ein paar Viecherln halt die mir so begegnet sind und die Hilfe brauchten.’
‘Na, wenn DAS kein Mensch mit einer strahlenden, unschuldigen Seele ist!’ dröhnte mein kleiner blauer Freund hinter mir.
‘Pfah, Oida!’ erschrak mein graubärtiger Freund, ‘was war das denn???’
‘Ich bin sehr erfreut, daß ich offenbar doch für JEMANDEN hier unsichtbar bin’ rief das blaue Männchen fröhlich.
Der alte Mann blickte verwirrt hinter mich, wo die Stimme herkam, aber konnte offenbar tatsächlich niemanden sehen.
‘Nun …’ setzte ich zu einer Erklärung an, als ich auch schon unterbrochen wurde …
‘Ich bin hierhergekommen,’ sprach das blaue Männchen weiter, ‘um einen Menschen mit einer wirklich strahlenden Seele zu finden, weil wir gewisse Probleme auf unserem Planeten haben, und da hab ich mir gedacht ok, mußt was machen … und es schaut ganz so aus, als ob ich mein Ziel bereits erreicht hätte. Hör mal Graubart, magst mit mir im Raumschiff mitfahren? Deinen Zoo können wir gerne mitnehmen. Unser großzügiger Bekannter hier geht mal rasch zum Billa vor und holt uns eine Ziegenmilch und einen Babysauger damit das arme Lämmchen nicht noch verendet bevor wir fertiggeredet haben, und wir beide unterhalten uns mal eine Runde, ok?’
Graubart guckte verdattert aus der Wäsche.
‘Bist du deppert, hab ich grad einen flashback’ murmelte er, ‘wo des locker 30 Jahre her is, daß ich den letzten Trip geschmissen hab. Stell dir vor, ich bin grad zu einer Fahrt im Raumschiff eingeladen worden, wie damals in meiner Jugend … ich hatte da diesen Freund, der war ein bissl daneben und immer wenn er eing’raucht war hat er von Raumschiffen phantasiert …’
‘Du, das waren keine Hallus,’ beruhigte ich ihn, ‘der Typ ist echt. Nur, ich glaub außer mir kann den niemand sehen. Und er hat recht, ich geh mal rasch was zum Trinken holen, für uns und für dein Lämmchen, und du hockst dich mal hier aufs Bankerl, keine Angst, er tut nix, also hoffe ich jedenfalls …’ und schon stob ich davon, Richtung Favoritenstraße, zum nächsten Supermarkt.
Wie ich wieder zurückkam, saß Graubart mit einem seligen Grinsen auf der Bank, neben ihm mein kleiner blauer Bekannter, und die beiden schienen sich prächtig zu unterhalten, völlig unberührt vom stetigen Passantenstrom der keine zwei Meter von ihnen kontinuierlich weiterfloß, vom Dröhnen der Busse, Klingeln der Straßenbahnen und Streitereien der nicht immer ganz nüchternen Menschen die den Platz meistenteils belebten.
‘Äh, hallo dann, ich hätt die Milch dabei, für das Tschapperl …’ brachte ich mich zaghaft in Erinnerung. Die beiden blickten auf, Graubart nahm dankbar meine Offerte an und begann in aller Ruhe, das Lämmchen zu füttern. Zuerst schien es als ob es bereits zu schwach wäre, am Sauger zu nuckeln, vielleicht hat es ihm auch einfach nicht geschmeckt, pasteurisierte Milch und so, aber dann, zu unserer großen Freude, saugte es mit Behagen am Fläschchen und kriegte es in Nullkommanix leer. Wir grinsten uns erleichtert an, im Glück vereint, eine große, glückliche Familie.
‘Sag mal,’ hub ich an, ‘wo wohnst du eigentlich? Ich mein, wenn du soviele Tiere hast, das geht sich in einer Gemeindebauwohnung doch nicht aus. Und reich scheinst nicht zu sein, wie … also ich mein …’
Graubart schmunzelte vor sich hin: ‘Wennst es wissen willst, dann komm mit, es ist eh nicht weit von hier. Bier und Wurstsemmerl hast ja dabei wie ich sehe, kannst da ins Wagerl stellen, gemma gemma!’
Eigentlich hatte ich ja gedacht, mich in Wien halbwegs auszukennen, aber sobald wir von der Quellenstraße abgebogen waren, hatte ich bald völlig die Orientierung verloren. Waren wir nun in Richtung Geiselberg unterwegs oder Arsenal, oder Ostbahn, ich habs nimmer blickt … wollte auch nicht fragen, das Rattern des Wagerls war eh so laut und naja, ich dachte es geht mich ja auch nix an und ich werd’s ja sehen … die Gegend war grau und trostlos, wie das in Wien halt oft einmal der Fall ist, im Hintergrund ratterten Güterzüge … wir querten eine völlig verlassene Seitengasse … und standen plötzlich vor einem Bauzaun.
‘Ja und jetzt?’ fragte ich entgeistert. ‘Wollen wir da etwa drüberklettern oder was?’
‘Na sicher ned,’ entgegnete Graubart, ‘des hammer uns schon dementsprechend eing’richtet. Komm, pack mit an!’
Erst jetzt bemerkte ich, daß die Kette nur auf den ersten Blick so ausschaute, als würde sie die Zaunteile fix miteinander verbinden. Graubart dröselte sie in Nullkommanix auf und ich half ihm, das Zaunteil soweit auf die Seite zu schieben, daß wir mit dem Wagerl bequem durchpaßten.
‘Sag, und das machst du jeden Tag? Ist das nicht ein bissl anstrengend in deinem Alter?’ fragte ich besorgt.
‘Siehste,’, boomte unser kleiner unsichtbarer Freund von hinten, ‘noch ein Grund mehr, mit mir am Raumschiff mitzufahren. Bei uns hat er es bequem, muß sich um nix kümmern, Schlaraffenland sozusagen.’
Während die beiden sich noch ein bissl keppelten, der Papagei fröhlich dazuwischenkrähte und ich nur irgendwas von Kohlsuppe und Nano nano mitbekam, was auch immer das bedeuten mochte, bogen wir um die Ecke und standen auf einmal mitten in einem kleinen Paradies. Zumindest optisch. Ein uralter, verlassener Zug stand auf einem fast schon völlig versunkenen Nebengleis, an den Fenstern der ehemaligen Waggons hingen Gardinen, außen prangte nicht etwa die übliche wilde Graffiti-Schmiererei sondern wunderbar ausgeführte Gemälde wobei die beliebten Hippiefarben Türkis, violett und altrosa durchaus vorherrschten. Wäre im Hintergrund nicht das ständige Geratter vorbeifahrender Züge gewesen … ich hätte mich glatt an den Wagen des ‘Nichtrauchers’ aus Kästners fliegendem Klassenzimmer erinnert gefühlt. Nur eben, daß hier viele Wagen standen. Teils beschädigt, teils deutlich angerostet, aber alle mit Liebe zum Detail bemalt und hergerichtet. Ich war entzückt.
‘Und hier wohnst du? Mit deinen Tieren? Ganz alleine? Keine Punks oder so die nachts rumnerven? Echt jetzt?’ Ich konnte es kaum glauben. So ein Idyll mitten in der Stadt? Ok, bis auf den Lärm halt … aber die Tiere waren ja auch nicht grad leise, und es soll ja auch Menschen geben, die unter Autobahnbrücken wohnen, von daher …
‘Najo doch, ab und an hab ich schon ein bissl an unguten Besuch,’ meinte Graubart mit schmerzlich verzogener Miene, ‘grad in letzter Zeit … die Obdachlosigkeit nimmt halt immer mehr zu und die Leut breiten sich aus und grad die Jungen ham oft kan Genierer. Gruft is ned für an jeden, waßt eh, Josi is immer öfter überfüllt, da willst natürlich dein eigenes Platzerl ham …’
‘Ja genau’, meldete sich unser blauer Freund wieder zu Wort. ‘Deswegen nehm ich dich mit und du kannst mitsamt deinen Tieren bei uns noch ein paar Superjahre haben.’
‘Eh leiwand von dir Noah,’ warf Graubart ein, ‘und ich käm ja auch gerne, aber wie lange müssen wir denn da fliegen? Da sterben wir doch alle unterwegs bis wir mal ankommen. Bringt doch nix.’
‘Total falsch,’ erwiderte … Noah … ob er nun wirklich so hieß oder ob es nur ein Schmäh war … ‘aber es wird nicht lange dauern. Die Menschen gehen das mit der Raumfahrt nur völlig falsch an. Sie steigen in die Rakete und fahren damit als ob sie mit dem Auto führen oder dem Flugzeug flögen. Einfach gradaus von A nach B, innerhalb der ihnen bekannten Dimensionen. Und solange sich die Wissenschaftler vehement weigern, sich mit den Mystikern mal zusammenzusetzen, wird das auch so bleiben. So kommt ihr NIE viel weiter als bis zum Mond und daß da nix los is hat sich ja mittlerweile rumgesprochen. Nein, wir Extraterrestials wissen wie das geht. Seitlich. Nicht gradaus. Einfach seitlich. Also sorge dich nicht ehrwürdiger Greis, vertraue dich und deine Schutzbefohlenen einfach mir an, wennst magst kannst auch einen Vertrag haben, daß dir niemals ein Leid geschehen wird und wir dich nicht kreuzigen wollen oder in einen großen Kochtopf setzen. Wir brauchen einfach einen gesunden Schuß menschlicher Wärme auf unserem Planeten, es wird vielzuviel gerechnet dort, immer mehr Leute haben eine Plutimikationsvergiftung, das kann ja so nicht weitergehen. Idealerweise würd ich gern noch mehr Menschen wie dich mitnehmen, aber ganz ehrlich, ich bin schon total happy, dich getroffen zu haben. Und die Zeit drängt ein bissl, ganz ehrlich.’
‘Naja,’ meinte Graubart, während er sich bedächtig den Bart strich. ‘I kennat da so an odrahtn Musiker beim Wienerberg … sog amoi, hobts Fisch aa bei eich am Planetn?’
‘Wie bitte?’ fragte Noah verwirrt?
‘Ob ihr auch Fische habt. Teiche, Seen, Gewässer mit Fischen drin. Mein Freund angelt nämlich sehr gerne, und wenn er das bei euch auch … naja, ich könnt ihn doch mal fragen. Ja und Strom bräucht ma, wegen der Gitarre.’
‘Du kein Problem’, meinte Noah, ‘bei uns ist es eh nicht viel anders als hier, nur daß wir halt ein bissl anders ausschaun und, naja, die Plutimikationsvergiftung. Habts ihr übrigens auch, es heißt nur anders. Depression oder Burnout nennt man es hier. Is aber gradaus dasselbe. Willst ihn mal anrufen, deinen Freund? Ob er mitfahren mag?’
‘Ich triff eahm eh, nachher, am Wienerbergteich, bissl angeln, er hat an Schein, der darf das, und hernach die Beute lustig verspeisen, am offenen Feuer, also wenn’s wollts seids eing’ladn …'
Besagter Abend war dann nicht nur unglaublich lustig sondern so stark von menschlicher Wärme geprägt, daß mir die Tränen kamen, und das lag sicher nicht am Bier, ich kann schon was vertragen wenn’s wär. Hatte ich doch bisher die Menschen eher gemieden, war mir nun bei dem Gedanken, diese wunderbaren, gerade erst gewonnenen Freunde, bald im All verschwinden zu sehen, sehr, sehr schmerzlich ums Herz. Aber leider war ich halt kein Mensch mit einer strahlenden Seele und unschuldig schon zweimal nicht, und hatte daher keine Hoffnung, ebenfalls ins Raumschiff mit eingeladen zu werden.
Seither friste ich, hier auf der Erde zurückgelassen, mein einsames Dasein, entwickle mich weiter und versuche, mich so edel wie möglich zu verhalten. Was mir, solange niemand Lärm macht, auch schon ganz gut gelingt. Denn vielleicht, eines Tages, kommt der Noah zurück um auch mich abzuholen. Zumindest sag ich mir das immer wieder vor, wenn mir die Melancholie, sorry, die Plutimikationsvergiftung, zu sehr das Herz abdrücken möchte. Aber solang ich die hab, kann man mich halt nirgends brauchen, ich würd’s ja nur noch schlimmer machen. Also tapfer weiter auf dem eingeschlagenen Weg, am Ende wird alles gut, man muß nur fest dran glauben!