Fließende Erinnerungen
In der Heimat meiner Großeltern gibt es nach jeder Beerdigung einen Leichenschmaus.
Da erzählen dann die Menschen Ihre Erinnerungen, die sie mit diesem Menschen hatten. Für mich war das immer wieder etwas sehr Bewegendes. Irgendwo zwischen einem traurigen Ereignis und einer riesig großen Neugier angesiedelt. Die Neugier kam daher, weil man plötzlich Geschichten erzählt bekam, die ich als Kind und junger Mensch so noch nicht erzählt bzw. gehört bekommen hatte.
Geschichten von Liebe, Leidenschaft, Geschichten von besonderen Momenten, aber auch Geschichten über die man herzhaft lachen konnte.
Das war für mich eine gebührende Verabschiedung von dem Menschen, den man gerade zu Grabe getragen hatte.
Mit meiner Oma auf den Friedhof zu gehen war immer wieder ähnlich.
Während wir die Gießkannen am Brunnen nahmen und mit Wasser auffüllten, hatte sie immer eine Geschichte zu den Menschen parat, dessen Grab wir dann anschließend begossen.
Das war für mich die Fortsetzung dieser Leichenschmause. Oft hatte ich da das Gefühl, das es die Menschen lebendig voller Farbe weiter leben ließ. In den Erinnerungen, in den Geschichten, genauso wie über die Erlebnisse, wo man über sie herzhaft lachen konnte.
Ich habe noch ganz viele Erinnerungen, Erlebnisse über meine Großeltern und auch meine Eltern in mir. Solange ich noch lebe, werde ich sie weiter erzählen und solange bleiben sie für mich lebendig und für all diejenigen, die die Geschichten gerne hören wollen.
Ab und an war ich schon versucht, sie aufzuschreiben, doch das wäre etwas ganz anderes. Dann fehlt der Bezug, dann fehlt die Begegnung. Wie die Augenblicke, wenn wir die Gießkannen in den Brunnen eintauchen lassen, er mit Wasser gefüllt ans Grab getragen wird und das Wasser auf die Blumen und den Schmuck langsam herunterprasselt.
Für mich gehören die Geschichten, die Erinnerungen immer dazu, wenn ich zwischendurch einmal an die Gräber gehe und zur Gießkanne greife.
Ich schaue mir immer wieder auch gerne „alte“ Friedhöfe an, zum Beispiel den Zentralfriedhof in Wien oder in Berlin den jüdischen Friedhof.
An diesen Orten fallen mir dann immer wieder auch Geschichten aus meiner Familie ein, Geschichten von Onkel August und von Onkel Johann, der mir ein paar der Sterne gezeigt hat, der einfach super gut zugehört hat.
Da ist dann manchmal Lachen und Weinen ganz nahe beieinander und doch ist es so, das es lebendige Erlebnisse weiterhin lebendig macht.
All diese Menschen leben in unserem Herzen, in unseren Erinnerungen weiter und manchmal erzählen wir sie Ihnen auch wieder laut oder leise, wenn wir das Wasser fließen lassen.