Capira
Dass Jorind einen Spürsinn für Gefahren und kommendes Unheil besitzt, kann man nun wirklich nicht behaupten, denn wenn dem so wäre, hätte sie das Pferd nicht gekauft. Aber wie hätte sie auch ahnen sollen, dass die bildschöne kastanienbraune Stute ihr zwei Jahre nach der ersten Begegnung Hals und Rücken brechen würde?
Auf der Suche nach einem Ersatz für ihren im Mai 2010 verkauften Domena-Sohn Nabucco hatte sich Jorind einige Monate auf ehorses.de umgeschaut und war schließlich auf zwei zweijährige Reitponystuten gestoßen, die in der Nähe von Schneeberg im Thüringer Wald auf der Sommerkoppel standen.
Als Theo und Jorind sie auf der nur schwer zugänglichen Hochweide besuchten, ging ein plötzlicher Gewitterregen nieder. Die kleine Stutenherde von sieben Zweijährigen, zwei semmelblonde Haflingermädchen darunter, stand, die Kruppen in den peitschenden Wind gedreht, oberhalb einer Kuhweide.
Zusammen mit der jungen Frau, die sie wie verabredet in einer Gaststätte getroffen hatten, versuchten sie, von einem Grasbüschel zum anderen springend, den schlammigen Eingangsbereich zu durchqueren. Eine große Herde weißgelbes Höhenfleckvieh beäugte sie aus einiger Entfernung. In dem aufgeweichten Boden hätte Theo fast einen seiner Sonntagsschuhe verloren. Schließlich gaben sie auf und kehrten zum Wagen zurück.
Sie durchfuhren das Dorf und gelangten in weitem Bogen auf den Höhenkamm. Auf einer schmalen durchweichten Einbuchtung des Zufahrtsweges konnten sie parken und legten die letzten Meter bis zur Pferdekoppel durch ein kleines Gehölz zu Fuß zurück.
Voller Eifer, die Brotstücke zu ergattern, die die Besucher mitgebracht hatten, wogte die Gruppe glänzend nasser Leiber hin und her, die Hufe quatschten im Schlamm.
"Dahinten die Dunkle mit der breiten Blesse, und die hier links." Jorind nickte der jungen Frau zu. Im strömenden Regen waren die Stuten kaum zu unterscheiden, aber sie hatte ihre Wahl schon getroffen.
"Wir kommen ein andermal wieder, wenn besseres Wetter ist!" Theo wandte sich zum Gehen. Das Wasser lief ihm bereits in den Nacken.
"Nicht nötig, ich nehme die hier!" Jorind deutete auf das zierliche Stütchen mit der leuchtenden Blesse, die offensichtlich den höchsten Rang innehatte. Jedenfalls hatte sie das meiste Brot erwischt.
"Das ist Piri. Ich zeige ihnen im Auto die Papiere."
Sie stapften eilig zum Wagen zurück und ließen sich erleichtert auf die Sitze fallen. Frau Freitag - "Fraidog wie Sunndog" - vertiefte sich mit Jorind in die Abstammungspapiere. "Hier die Vaterseite, reines Welsh, über die Mutterlinie hat sie viel Blut."
Jorind atmete tief durch. Welshponys hatten oft einen harten, stark werfenden Trab. Ursprünglich waren sie zum Fahren gezüchtet worden. Immerhin war Capira, von ihrer Besitzerin liebevoll "Piri" gerufen, nicht zu kurz gefesselt. Darauf hatte Jorind vorhin besonders geachtet. Je länger die Fessel, desto angenehmer der Trab.
Anglo-Araber und Trakehner auf der Mutterseite konnten heftiges Temperament bedeuten, aber auch Härte und Leistungsbereitschaft. Egal, die Stute war bezaubernd schön und von bester Abstammung. Selbst wenn sie sich nicht als das Verlasspferd entpuppen sollte, das Jorind eigentlich brauchte, ließ sie sich jederzeit mit Gewinn verkaufen. Vorausgesetzt, sie verfügte über eine solide Grundausbildung, und dafür würde Jorind schon sorgen.
Sie fuhren zu der Gaststätte zurück, die als erster Treffpunkt gedient hatte, und besiegelten das Geschäft bei Kaffee und Kuchen. Maren Freitag hatte einen Kaufvertrag mitgebracht, den sie jetzt zusammen ausfüllten.
"Wie sieht es denn mit der Umgänglichkeit aus?" fragte Theo. "Lässt sie sich aufhalftern, putzen, führen? Gibt sie die Hufe?"
Frau Freitag zog die Stirn kraus.
"Naja, um ehrlich zu sein, mit den Hufen haben wir noch nicht viel gemacht. Ansonsten ist sie sehr zutraulich. Sie geht auch einwandfrei in den Hänger. Wir haben sie schon mehrmals von einer Weide zur anderen transportiert." Sie überlegte einen Augenblick, nahm dann den Stift und notierte in der Spalte "Sonstiges" "Gibt schlecht Hufe".
Jorind lehnte sich ungeduldig zurück. Sie konnte es kaum erwarten, das Pferd bei sich auf der Koppel zu sehen.
"Das kriegen wir schon hin. Schließlich ist sie nicht das erste Pferd, das wir ausbilden."
"Weil deine Pferde auch alle bestens die Hufe geben", warf Theo spöttisch dazwischen. Jorind musste nun selbst lachen, denn weder Livia noch Domena gaben ordentlich die Hufe her.
"Daran sind die Reitmädels schuld", behauptete sie. "Immer wenn die genügend zupacken können, kommt eine Neue dazu, und die Pferde amüsieren sich mit ihr."
"Schieb du nur alles auf deine Mädels. Am besten, du machst bei Capira alles selbst, dann werden wir ja sehen, an wem es liegt."