Morgenglück
Die Sonne erhebt sich überm östlichen Horizont und wirft ein leuchtendes Rechteck an die Schlafzimmerdecke. Jorind rekelt sich genüsslich unter der leichten Sommerdecke und schlägt die Augen auf. Ihre Mitbewohnerin liegt auf dem Bett neben ihrem, nur ein schmaler Gang liegt dazwischen. Zuma träumt, ihre Pfoten zucken leicht. Wahrscheinlich erinnert sie sich an die beiden Hasen, denen sie auf ihrer Wanderung gestern begegnet sind. Der grasige Feldweg hatte eine leichte Biegung gemacht, und da saßen sie vor ihnen, die schlanken Körper aufrecht, die langen Löffel in die Luft gereckt. Die vier hatten sich angestarrt, lange … lange. Erst als der Hund sich regte, waren die Langohren in weiten Fluchten davongefedert und im Maisfeld verschwunden.
Jorind lächelt über die Erinnerung. Ein magischer Moment, einer dieser Augenblicke, die man nie vergisst. Sie dreht sich ein wenig, sucht eine schmerzfreie Lage. Ihr Rücken meldet sich immer noch, obwohl der schwere Reitunfall schon drei Jahre her ist. Auch ein Halswirbel war gebrochen damals. Ein großes Glück, noch am Leben zu sein. Noch einmal mit dem Leben davongekommen, wie man so sagt. Es vergeht kein Tag, an dem sie nicht dankbar dafür ist.
Besonders morgens, wenn sie sich nach dem Aufwachen bewußt wird, dass sie noch liegenbleiben kann. Kein Job, kein Termin. Sie lauscht den rauschend vorbeifahrenden Autos, den brummenden Kieslastern, den dröhnenden Traktoren. Alle Welt hat es eilig, jeder hat Dringendes zu tun.
"Nur ich nicht", denkt sie zufrieden und überlegt, wie sie ihren Tag verbringen könnte. Sie ist für den Nachmittag in einem Swingerclub angemeldet. Es ist ihr Lieblingsclub, mit herrlicher Außenanlage und großem Schwimmbecken. Der Lover, mit dem sie verabredet war, hat abgesagt, ein plötzlicher Auftrag.
Aber natürlich könnte sie auch alleine losziehen. Das Schneckchen rasieren, eins ihrer Vögelfähnchen in die Tasche, und los! Noch ist der Himmel wolkenlos, aber später wird es sich zuziehen, das kennt sie schon. Und im Erzgebirge wird es regnen.
In den letzten Tagen hat sie Fortschritte mit ihrer Schreiberei gemacht, das Projekt nimmt langsam deutlichere Konturen an. Also Laptop statt Lover. Oder? Möglicherweise wird sie ihren Entschluss im Laufe des Tages noch mehrmals ändern. Aber das macht nichts, es ist Teil ihre Freiheit. Tausend Möglichkeiten, denkt sie, schwingt die Beine aus dem Bett und verkündet ihrer Hündin, es sei Frühstückszeit.