in allerletzter Sekunde
Das hier ist Satire und ein wenig böse. Heißt: Ich kann auch anders. Immerhin ist 2018! Dabei spielt die Geschichte am Heiligabend, den die Magensäure unserer Mägen gerade erst so einigermaßen überstanden hat. Alle hier im Folgenden Beschriebenen haben die Datenschutzerklärung der Geschichte zwar nicht gelesen, aber wissen, unter welcher Adresse sie sie gegebenenfalls nachlesen können und haben das Häkchen gesetzt, damit es endlich los gehen kann. Keines der erwähnten Lebewesen war unter achtzehn, den Lachs aus der Terrine ausgenommen. Der war auch nur in Teilen anwesend. Außerdem sind Lachse Sachen und der kanadische Bär, der eigentlich dolmetschen sollte, war kurz vorher vegan geworden und wollte mit dem Fisch nichts mehr zu tun haben. Da musste ich als Autor respektieren, auch wenn ich Lachs liebe ...Was wollte ich?
Ach ja. Es folgt tatsächlich noch eine Geschichte. Also Teil eins davon. Wegen der ungeplanten Vorrede etwas kürzer.
„Ach du Scheiße!“, sagte ich und konnte nicht anders, als gebannt in Richtung Fenster zu starren. Claudia sah missbilligend auf – ich sah es nicht, aber ich wusste, dass ihr Blick missbilligend war – führte die Gabel mit dem fein dosierten Bissen Lachsterrine zum Mund und begann zu kauen. Hielt inne, die Brauen – Conchita, die Visagistin hatte sie noch gestern Nachmittag fein säuberlich getrimmt und gefärbt – zusammengeschoben. (Es gelang nicht so ganz wie früher, die Botox-Injektion war noch zu frisch.) Ich sah das nicht, aber ich wusste es.
Ich war abgelenkt, zugegeben: Ich sah, dass der Baum brannte.
„Der Baum brennt!“, sagte ich zwischen Faszination und Unglaube. Ihre Gabel klirrte auf den Teller wie ein Nierenstein in die Sanitärkeramik. Nur lauter, empörter.
„Mach’ nicht immer solche ...“, sagte sie unwirsch, aber dahinter keimte schon die Erkenntnis, dass dieser Scherz wahr sein könnte. Sie schnüffelte hörbar in Ermangelung eines Hundes, der dafür besser geeignet gewesen wäre.
Überhaupt wäre höchst wahrscheinlich alles anders gekommen, hätte sie die Idee mit dem Hund nicht verworfen damals.
Der Verdacht auf Hundeallergie hatte sich im Nachhinein als Irrtum erwiesen.
Ich hatte allerdings kurzzeitig den Verdacht gehabt, sie hätte sich vor dem Gedanken gefürchtet, eines Tages eine Plastiktüte über einen noch warmen ...
Ja, nur kurz. Es gab Leute, die so etwas für Claudia erledigten.
Es ging uns gut an diesem Heiligabend 2017. Besser als noch im Jahr davor. Ein wenig nur, aber besser.
Bis ich das mit dem brennenden Baum sah.
Hätte ich doch nur nicht hingesehen. Im Fernsehen sang ein Knabenchor: „Es ist ein Ros’ entsprungen“ in der Kulisse einer Renaissance-Kirche. Das Lieblingweihnachtslied meines Schwiegervaters, wie Claudia immer behauptet hatte, solange der lebte. Als er beerdigt wurde, spielten sie „Ännchen von Tarau“, weil: Es war April. Das war auch ein Lieblingslied von ihm, wurde mir später gesagt. Ich habe sehr geweint damals in der Kapelle, als das Lied erklang. Ich bin so.
Ich habe mich damals mal mit ihm über „Schwarz braun ist die Haselnuss“ und „In einem Polenstädtchen“ gestritten. Er nannte es Volksliedgut und meinte es fatalerweise ernst. Ich hab’ ihm das übelgenommen; nicht so sehr wie seine Sauferei, aber fast. Bis zu dem Moment, als der CD-Player „Ännchen von Tarau“ anstimmte. Manchmal ändern sich die Dinge von einem Herzinfarkt auf den anderen, musste ich erkennen.
„Der Baum brennt!“, sagte Claudia mit einem Kloß im Hals. Ich war einen Moment versucht, ihr zu raten, sie solle einen Schluck trinken. Aber es gab Wichtigeres.
Richtig: Der Baum brannte!
Ich sah es für einen kurzen Moment im Spiegel ihrer ungläubig aufgerissenen Augen. Inzwischen nicht mehr nur der Baum allein. Die Vorhänge hatten sich hinzugesellt. Ein Umstand, der mich irgendwie aus meiner mit Faszination angefüllten Starre aufwachen ließ. Ich sprang auf.
Wie immer, wenn ich unbedacht einfach aufsprang, passierte etwas, was die Sache noch schlimmer machte.
In diesem Fall sehr viel schlimmer. Fast so schlimm wie bei dieser denkwürdigen Sitzung des Strategieteams meiner Firma, bei der es um den Investor ...
„Der Baum brennt, Henry, tu’ doch was!“, sagte Claudia und riss mich aus meinen Gedanken. (Hatte ich meine Tabletten heute nicht genommen?)
Als ich hinsah, brannte auch der Tisch vor mir. Ich hatte die Kerze umgeworfen!
In 897 von tausend Fällen – statistisch gesehen (ich habe das später gegoogelt) – verlischt eine Kerze beim Umfallen. Also normalerweise, wie wir so dahinsagen.
Aber es war Heiligabend 2017 und nichts war an diesem Abend normal. Also ergoss sich eine Lache brennenden Wachses über den Damast des Esstisches. Später sollte sich herausstellen, dass dreißig Prozent dieses Stoffes Synthetik waren und das Siegel „Textilien ihres Vertrauens“ ein Fake. Jedenfalls brannte er sofort und mit blassblau-grünlicher Flamme.
Nun hatten wir zwei Baustellen, äh, Brandherde und für keinen von beiden einen Plan. Wir sind Bildungsbürger, Humanbildungsträger, nicht Bob der Feuerwehrmann. Ich habe ein Beargrill Klappmesser von Gerber. Aber ich bin kein Überlebenskünstler in der Wildnis. Ich nehme es zum Äpfel schälen. (Von wegen auch „fpäter noch kraftvoll zubeifen können“, daff ich nift lache!)
Das brennende Wachs lief schnurstracks auf Claudia zu, die es instinktiv versuchte, mit den Händen daran zu hindern, auf das neue kleine Schwarze zu tropfen (Vorjahreskollektion - so gut ging es nun auch wieder nicht!). Plötzlich standen ihre Hände in Flammen und da war der Spaß endlich vorbei. Aber eigentlich fing er da erst an. Nur nicht für uns.
[tbc]