Reduziert
Ein Klopfen an der Tür, kaum das Stimmengemurmel der Schüler übertönend. Er blickt auf und wartet. Nichts rührt sich. Er geht zur Tür und öffnet. Jorind steht da, an die Wand gelehnt, schaut zu Boden und regt sich nicht."Was ist?"
Sie räuspert sich, macht mit der Hand eine undeutbare Bewegung.
"Ich wollte mich nur verabschieden", sagt sie heiser.
"Wieso? Wo wollen Sie den hin?"
"Ich mach die Fliege," Sie verzieht den Mund. Soll wohl ein Lächeln sein. Er sieht, dass sie in einem desolaten Zustand ist.
"Macht mal weiter, ich komme gleich wieder", ruft er über die Schulter und schließt die Tür.
"Kommen Sie, wir gehen wohin, wo wir ungestört sind." Er schiebt sie vor sich her. Tja, wohin nur? Er ist ja ein hilfsbereiter Mensch, doch im Augenblick ist sie ihm eher lästig. Er steuert die Lehrergarderobe an und zieht sie am Jackenärmel mit sich. In dem engen Räumchen ist kaum Platz. Er schubst sie zum Kopiergerät und zieht die Tür hinter sich zu. Sie lehnt sich schwer an den Kopierer und schaut blicklos auf die Jacken und Mäntel, die neben ihnen hängen.
"Also nochmal: Wohin wollen Sie?"
"Ist doch egal." Wieder ein vages Wedeln mit der Hand. "Hab einfach genug von diesem Jahrhundert. Man wird nur reduziert, nur reduziert. Die Ärzte reduzieren dich auf Symptome und Hormone. Der Mann reduziert dich auf Rentenansprüche. Die Kollegen reduzieren dich auf Schwäche gegenüber den Schülern. Wenn du das zusammensetzt, kommt aber keine Jorind heraus."
Er schaut sie schweigend an, kaut an seiner Unterlippe.
"Kommen Sie", sagt er schließlich, "ich habe Schule bis halb vier. Ich kann Sie aber so auch nicht gehen lassen. Ich bringe Sie zur Schulleitung." Schlagartig schreckt sie aus ihrer Erstarrung auf.
"Auf keinen Fall!", sagt sie heftig. "Bist du verrückt?" Es ist das erste Mal, dass sie ihn duzt, doch es hat keine Bedeutung mehr.
"Nein, aber du! Jedenfalls sieht ein Blinder, dass du Hilfe brauchst. Kann ich jemanden anrufen? Deinen Mann?"
"Nein", sagt sie schnell. Nach kurzem Zögern holt sie ein Kärtchen aus ihrer Jackentasche und hält es ihm hin.
"Psychiatrische Klinik", liest er laut. Er holt tief Luft.
"Okay." Er fischt sein Handy aus seiner Jacke, die einträchtig bei den anderen hängt, und tippt die Nummer ein.
"Hallo? Ja, hier ist ..." Er zögert, spricht dann weiter. "Ein Kollege von Frau Steffens. Es geht ihr nicht gut. Was? Gut. Vielen Dank." Er gibt die Adresse an und steckt das Gerät in die Jacke zurück.
"Sie holen Sie hier ab. Ein blauer Kleinbus. Am besten, Sie warten vor dem Haupteingang." Er öffnet die Tür, zieht sie am Jackenärmel hinter sich her und schiebt sie leicht Richtung Treppenhaus.
"Ich muss zu meinen Schülern zurück. Alles Gute." Er lächelt sie flüchtig an, macht auf dem Absatz kehrt und geht mit wiegendem Schritt den Flur entlang. Sie schaut ihm nach, bis er in seinem Klassenzimmer verschwunden ist.
"Tschüss, kleiner Knackarsch", flüstert sie. Der lange zurückgedrängte Weinkrampf drückt jetzt mit Macht nach oben. Sie wendet sich von der Treppe ab und steuert stattdessen die Damentoilette an. Sie klappt den Klodeckel herunter, setzt sich und lässt die Tränenflut kommen. In Wellen rollt der Schmerz durch sie hindurch. Es dauert lange, bis sie sich beruhigt hat.
Schließlich schnäuzt sie sich ein letztes Mal energisch und steht auf. Vom Hauptportal ist ein Hupen zu hören. Sie streckt die Arme seitwärts, bewegt sie langsam auf, und ab wie ein Vogel im Flug, und atmet tief ein und aus, wie sie es in der Tanztherapie gelernt hat. Zum Abschluss legt sie ihre Arme fest um ihre Schultern.
Ich habe ja mich, denkt sie und geht entschlossen hinaus.
(c) luccioladagosto 2012/2018