Livia
Livia (1/2)Als Markgraf, das Fohlen von Jorinds Haflingerstute Linda, ein Jahr alt war, kam ihr zweites Fohlen Livia zur Welt. Jorind freute sich dieses Mal nicht so wie bei Markgrafs Geburt, denn Livia kam ausgerechnet an einem Montagmorgen, als Jorind bereits mit dem Fahrrad auf ihrem Weg zum Zug war, der sie nach Wetzlar ins Hessenkolleg bringen sollte. Jorind war mit Feuereifer dabei, das Abitur nachzuholen, und Livias Ankunft störte da nur.
Seufzend drehte sie um, als Theo sie mit dem Auto eingeholt und von dem Neuankömmling berichtet hatte. Einen Tag Unterricht versäumen! Hätte das Fohlen nicht einen Tag früher kommen können?
Sie hat es dem Pferd aber nicht lange nachgetragen, denn Livia entpuppte sich als Musterpferd, Meisterpferd, Modellpferd, Wunderpferd, Traumpferd.
Schon als Jährling lief sie im Sturmschritt durchs Unterholz der hessischen Wälder, Jorind konnte kaum mithalten. Nie war es für sie ein Problem, sich von der Herde zu lösen und mit Jorind eine Runde zu marschieren. Das ist so geblieben bis heute. Sie lässt sich problemlos alleine ausreiten, reagiert auf die feinsten Hilfen, hat auch mit siebenundzwanzig Lenzen noch jede Menge Schmackes.
Als Jorind und Theo sich entschlossen, von Hessen nach Thüringen überzusiedeln, war Livia vier und mit ihrem ersten Fohlen Aramis tragend. Livia reiste in dem nagelneuen Pferdehänger mit Vindur zusammen, dem alten aber topfiten Islandwallach, den Jorind als Ersatz für Markgraf von einer Nachbarin erstanden hatte. Wieso Markgraf verkauft wurde und wie es mit Vindur weiterging, ist eine lange Geschichte und soll an anderer Stelle erzählt werden.
Livia und Vindur kamen also in Thüringen an. Kurze Zeit später kam eine weitere Haflingerin dazu, Vanessa, eine Dunkelfüchsin mit üppigem silbernen Langhaar. Auch sie war tragend, und mit ihrem Hengsfohlen Hemingway wuchs die kleine Herde auf fünf Köpfe an: zwei Mutterstuten mit Fohlen und Vindur, den geborenen Fohlenonkel.
Für ihren energischen Schritt bekam Livia eine begehrenswerte "Sieben", als sie im Alter von Fünf die Stutenleistungsprüfung im thüringischen Meura ablegte. Die gleiche Note brachte ihr Geschick und Eifer beim Freispringen ein. Das Fahrtraining dagegen hasste sie, und wenn die Reitwartin des Gestüts mit dem Zuggeschirr überm Arm vor ihrer Box erschien, drehte Livia demonstrativ das wohlgerundete Heck zur Tür. Dies und ihr Problem, auf Aufforderung in den unbequemen Rechtsgalopp zu wechseln, wurden jeweils mit einer unterdurchschnittlichen "Fünf" bewertet.
Die Prüfung, die das vierwöchige Vorbereitungstraining abschloss, spiegelte Stärken und Schwächen getreulich wider. Gute Ergebnisse im Freispringen und dem Geländeparcours, der mit einigen Sprüngen und einer Wasserdurchquerung recht anspruchsvoll bestückt war, miese Noten für das Ziehen des schweren Holzschlittens über stark bremsenden Grasuntergrund und für einen nur widerwillig gezeigten Rechtsgalopp.
Dass sie schließlich als Sechsunddreißigste von sechsunddreißig teilnehmenden Stuten abschnitt, nahm Jorind nicht so sehr ihrem Pferd übel als vielmehr dem Gestütsleiter, der die Ergebnisse verkündete, mit dem ersten Platz beginnend.
Jorind, Theo und die Reitmädels, die mitgekommen waren, wurden immer unruhiger, als ein Name nach dem anderen genannt wurde, aber immer und immer noch nicht Livias. Jorind fand diese Art der Bekanntgabe niederschmetternd und psychologisch äußerst unsensibel. Sie hätte, wie sie auf der Heimfahrt ihren Zuhörern aufgebracht auseinandersetzte, zuerst gesagt, dass alle bestanden hätten, und anschließend die ersten zehn genannt, beginnend mit dem zehnten Platz.
"Najaaa", war Theos beschwichtigender Kommentar, "nimm's einfach als Lehre für dich. Falls du mal einen Reitwettbewerb ausrichtest, kannst du's besser machen."
(c) luccioladagosto 2014/18