Über Epigramme
Obwohl, dem Sprichwort entgegen, das Geld nicht auf der Straße liegt, gibt es Menschen, die‘s finden. Sie kommen des Wegs, gucken in die Luft, bücken sich plötzlich und haben ein Geldstück in der Hand.
Martial mit seinen zwölfhundert Epigrammen war so ein Mann. Zwölfhundert epigrammträchtige Einfälle fand er auf seiner Lebensstrasse. Die schmutzigen Münzen rieb er blank. Den fahlen Goldstaub schmolz er ein. Die unscheinbaren Edelsteine schliff er zu Juwelen. Und noch die Quarz- und Glimmerstücke traktierte er, bis man sie für Diamanten hielt. Er fand, auch wenn er nicht suchte.
Im Einfall liegt das Geheimnis, in der Prägung steckt die Kunst des Epigramms, und viel mehr wäre über den Spruch, diese kürzeste Gedichtgattung, kaum zu sagen. Allenfalls noch, dass sie dem Inschriftenkult auf Denkmälern ihr Entstehen verdankt und dass sie sich später, nicht zuletzt durch Martial, „vom Denkmal fort und zum Denkzettel hin“ entwickelte, wie ein neuerer Kunstrichter die Wandlung vom Heroischen zum Satirischen bezeichnet hat.
Schließlich ließe sich anmerken, dass jedes echte Epigramm, der Poetik gemäß, zwei Regeln erfüllen muss: Es soll „Erwartung“ wecken und pointierend „Aufschluss“ geben. So hat es Lessing formuliert, und er hat es noch den größten Meistern schwer angekreidet, wenn und sooft sie das Gesetz übertreten hatten. [...] Dieses Gesetz ist keine Spitzfindigkeit der Philologen, sondern es wohnt dem Epigramm inne.
Erwartung und Aufschluss? Ein beliebiges Beispiel mag die Doppelregel veranschaulichen. [...] Der Vierzeiler steht, in ungelenken Lettern, auf einem Tiroler Marterl und ist dem Andenken an einen tödlich verunglückten Holzknecht gewidmet.
„Es ist nicht weit zur Ewigkeit“
lautet die gewagte, Erwartung weckende Behauptung. Und die dem verweilenden Wanderer Aufschluss erteilenden, wahrhaftig überraschenden Beweiszeilen:
„Um acht ging Martin fort,
um zehn Uhr war er dort.“
[...] Im Schatzhaus unserer Literatur birgt das Gewölbe mit den Epigrammen, diesen kunstvoll geschnittenen Gemmen und vollendet geschliffenen Edelsteinen der Dichtung, unschätzbare Werte.
Man darf sie besichtigen und besichtigt sie nicht. Sie sind wundervoll wie Miniaturen und werden nicht bewundert. [...] Lasst uns den Verlust endlich erkennen, beklagen und wettmachen! Das Epigramm ist tot? Es lebe das Epigramm!
aus: Erich Kästner, Es gibt nichts Gutes, außer: Man tut es. Epigramme. Kurz und bündig.